Im idyllischen Weimar schafft Ulrike Theusner ihre weltweit gefragten Bilder. Per Fahrrad waren wir mit ihr in der Stadt unterwegs, zu Brunnen, Arabesken und Goethes Gartenhaus
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11.09.2025
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 244
Treffpunkt am Residenzschloss, Löwenportal. Die Künstlerin Ulrike Theusner kommt mit ihrem Hollandrad den Burgplatz heruntergerollt, ihr Seidentuch flattert im Wind. Zuletzt haben wir uns auf einer Vernissage in Berlin gesehen. Was für ein Glück, dass wir überhaupt einen Termin gefunden haben: Sie ist oft auf Reisen, war kürzlich beim Aufbau ihrer Ausstellungen in Seoul und in Bonn und wird sich in ein paar Tagen auf den Weg nach Basel machen, dann weiter nach Italien und Bad Gastein. Doch heute sind wir in Weimar. Hier ist sie aufgewachsen, hier lebt sie, hier wollen wir gemeinsam mit dem Fahrrad durch den Park an der Ilm, zu ihrem Atelier und zum Schloss Belvedere.
Das Residenzschloss ist wegen umfassender Arbeiten noch für Jahre geschlossen, aber wir haben uns angemeldet und dürfen die schon restaurierten Dichterzimmer besichtigen. „Es riecht schon so historisch“, sagt die Künstlerin, als im Coudray’schen Treppenhaus der kalkig-kühle Schlossgeruch auf unsere Nasen trifft. Seit ihrer Schulzeit war Theusner nicht mehr hier. Durch den mit rotem Samt bespannten Audienzsaal geht es in die Goethegalerie, das größte der Dichterzimmer. Auftraggeberin dieser Zimmerausstattung war die Großherzogin Maria Pawlowna, russische Zarentochter und damit Spross einer der mächtigsten und reichsten Familien Europas, die durch ihre Heirat mit dem Erbprinzen Carl Friedrich in das kleine, verarmte Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach gekommen war. Sie prägte Weimar als große Förderin der Künste. Die Dichterzimmer, die sie zwischen 1835, drei Jahre nach Goethes Tod, und 1848 als Gedächtnisort für Wieland, Herder, Goethe und Schiller anlegen ließ, gelten als erstes Denkmal der Weimarer Klassik überhaupt.
Die Goethegalerie entwarf der damals schon berühmte preußische Hofarchitekt Karl Friedrich Schinkel. Die Einteilung der Wandflächen, die Szenen aus Goethes Dramen und Gedichten vor pompejanischem Dunkelrot, die Einbeziehung römischer Sarkophagreliefs, all das sind Elemente einer Antikenbegeisterung, die sich hier zu einem klassizistischen Gesamtkunstwerk zusammenfügen. Viele Kunstschaffende waren an ihrer Entstehung beteiligt, darunter auch mindestens eine Künstlerin. Die Bildhauerin und Medailleurin Angelica Facius hat die aufwendigen Bronzetüren mit figürlichen Reliefs versehen und Goethes Porträtmedaillon über der Tür geschaffen.
Die Fülle der Szenen ist überwältigend: „Faust I“ und „Faust II“, „Iphigenie“, „Götz von Berlichingen“, „Die Leiden des jungen Werther“ und „Der Zauberlehrling“ – schon Maria Pawlownas Zeitgenossen waren überfordert. Für sie lagen damals Papptafeln mit Erklärungen bereit. Wir haben dafür den neuen „Dehio“ und das 144 Seiten starke Buch „Dichterzimmer“ der Klassik Stiftung Weimar dabei. Ihm ist zu entnehmen, dass Schinkel die halbrund gewölbte Decke in Anspielung an ein Velarium entwarf, ein vom Wind aufgeblähtes Sonnensegel.
Wir legen die Köpfe in den Nacken, um die kleinen Tondi an der Decke zu studieren. „Ich liebe Putten!“, sagt Theusner. Sie begegnen einem auch in ihrer Kunst hin und wieder. Hier an der Decke zielen die kleinen Engel mit verschiedenen Gegenständen auf Goethes viele Interessen ab: Glaskugel und Regenbogen als Symbole für die Farbenlehre, der Jupiterkopf für seine Antikenleidenschaft, der Hammer für die Mineralogie, der Schädel für seine Erforschung der 67 Knochen. Ein Blumen pflückender Putto spielt auf Goethes Beobachtungen der Metamorphose der Pflanzen an.
Das kleine Wielandzimmer mit seiner leuchtend roten Wandfarbe zieht uns magisch an. „Vorsicht, bitte nicht auf die Perlmuttsterne treten!“, werden wir ermahnt, denn das Parkett mit seinen Einlegearbeiten ist in diesem Zimmer besonders kostbar. Christoph Martin Wieland – seine Büste ist eine Kopie nach Johann Gottfried Schadow – ist an dem Hauskäppchen zu erkennen, das er als älterer Herr trug. Sein romantisches Epos „Oberon“ von 1780 ist für die Dekoration der Wände tonangebend.
Die Geschichte des Elfenkönigs, von Shakespeare im „Sommernachtstraum“ und von Herder und Goethe in Balladen aufgegriffen, ist hier überall präsent. Oberon und Titania tauchen auch in den rahmenden Grotesken auf. Um sie im Detail zu betrachten, treten wir näher heran. Grotesk: Wir kommen auf den Ursprung dieses Wortes zu sprechen. Während der Renaissance wurden antike Wandbemalungen in römischen Palästen entdeckt, die damals, unter dem Schutt der Zeit begraben, wie Grotten wirkten. Seitdem bezeichnet man diese Art der Ornamentik als Grotesken. „Aus der Grotte erwachsende, surreale Merkwürdigkeiten“ – Theusner lässt sich die Worte auf der Zunge zergehen: Die unlogischen Geflechte aus Pflanzen, Fabelwesen, Vasen oder Masken sind ganz nach ihrem Geschmack.
Im 18. Jahrhundert erlebte diese Art der Dekoration, die auch Arabesken genannt wird, durch die Ausgrabungen in Pompeji und Herculaneum einen großen Aufschwung. Goethe kannte sie von seiner Italienreise. Dessen Schrift „Von Arabesken“ veröffentlichte Christoph Martin Wieland im Teutschen Merkur: „Fröhlichkeit, Leichtsinn, Lust zum Schmuck“, schrieb Goethe, „scheinen die Arabesken erfunden und verbreitet zu haben, und in diesem Sinn mag man sie gerne zulassen, besonders wenn sie (…) der besseren Kunst gleichsam zum Rahmen dienen.“
Selbst wenn die Bilder in den zentralen Wandfeldern die „bessere Kunst“ sein sollten, Theusner und ich begeistern uns besonders für die rahmenden Motive, in denen Vernunft und Schwerkraft ausgeschaltet sind und Körper, Pflanzen und Tiere verspielt ineinandergreifen. Überhaupt, sagt die Künstlerin, sei sie ein großer Fan von Ornamentik. Sie hat für ein Jahr Architektur studiert: „Da habe ich immer richtig schön rumgeschnörkelt, inspiriert vom Barock, aber auch von der Klassik, bestimmt auch von den alten Gemäuern hier.“ Dieses Kapitel ihres Studiums an der Weimarer Bauhaus-Universität bringt sie zum Lachen. „Das war alles viel zu viel! Wir mussten reduzierter und moderner arbeiten. Das mit der Architektur ging daher nicht lang gut, und ich habe umgesattelt auf Kunst, da konnte ich mich richtig ausschnörkeln.“
Ausschnörkeln kann man sich auch in der Kunstgeschichte, allein schon bei den Künstlerbiografien der Dichterzimmer. Zum Beispiel bei der von Carl Alexander Simon, der die Arabesken rund um den Elfenkönig entwarf. Aus einem Motiv ergibt sich das nächste: Unten lagert eine Figur, von Amors Pfeil getroffen, aus ihr erwachsen Blumenstängel und Blüten, darüber kriecht eine Raupe, und ein Nackedei hält einen leeren Kokon, über dem ein Falter schwebt. So scheinbar unberechenbar die Darstellungen sind, so war auch das Leben dieses Künstlers, der wie Ulrike Theusner in Frankfurt an der Oder geboren ist, er 1805, sie 1982. Seine Studienzeit führte ihn nach Berlin und München, dann ging es nach Rom, Neapel, Weimar und Stuttgart, wo eine Hungersnot ausbrach und er beim sogenannten Brotkrawall des Landes verwiesen wurde. 1848 wanderte er enttäuscht von der Revolution nach Chile aus und kam im Kampf mit Ureinwohnern ums Leben. Wenn das keine Arabeske ist.