Interview mit Susanne Brumme

„Die Wettiner könnten Filmstoff liefern“

Susanne Brumme vermittelt bei der Friedenstein Stiftung Gotha ihr Wissen über die Thüringer Herzogsfamilien. Ein Gespräch über Erbteilungen, genderfluide Exzentriker und Queen Victoria

Von Tim Ackermann
07.08.2025
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 244

Wer die Wettiner waren, gelingt nicht jedem auf Anhieb zu erklären. Eine, die es kann, ist Susanne Brumme. Die 36-Jährige hat als Mitarbeiterin für Veranstaltungen bei der Friedenstein Stiftung Gotha ihren Traumjob gefunden. Seit ihrer Kindheit interessiert sie sich für den Adel, besonders das englische Königshaus. Dieses ist verwandtschaftlich auch mit jenem Geschlecht verflochten, das einst nach der Burg Wettin bei Halle (Saale) benannt wurde und über Jahrhunderte neben den Schwarzburgern und dem Haus Reuß zu den drei einflussreichsten Dynastien des Thüringer Hochadels zählte. Im Gespräch mit Brumme wird die komplexe Historie der Fürstenhäuser schnell verständlich.

Frau Brumme, wie machen Sie ein heutiges Publikum auf die Wettiner neugierig?

Susanne Brumme Indem wir das Wissen auch mal mit einem Augenzwinkern vermitteln. Zum Beispiel haben wir gerade zwei Faltkarten produziert mit den Titeln „Dein Herzog-Match“ und „Dein Herzoginnen-Match“. Das Prinzip orientiert sich an den Persönlichkeitstest, die man vielleicht aus der Jugendzeitschrift Bravo kennt: Mit diesen Flyern, die zu Beginn des Rundgangs durchs Schloss ausliegen, kann man seinen Seelenverwandten unter den hiesigen Fürsten finden.

Wenn ich jetzt also bei den Fragen nach einem gelungenen Date oder Geschenk überwiegend Antwort A auswähle …

… dann suchen Sie einen Partner, der Wert auf Ordnung und Disziplin legt, und werden mit Herzog Ernst I., dem Frommen, gematcht! Sicher haben wir bei diesem spielerischen Ansatz ein paar Stereotype betonen müssen, um die Herzöge voneinander abzugrenzen. Aber es ist eine gute Möglichkeit, in die Fragen und Antworten elegant Informationen einzustreuen und so das Publikum zu erreichen.

Herzog August von Sachsen-Gotha-Altenburg
Herzog August von Sachsen-Gotha-Altenburg m Porträt aus dem Jahr 1807. © Foto: Nora Klein

Weshalb sind eigentlich die Thüringer Herzöge heute weit weniger bekannt als zum Beispiel die Preußen?

Das liegt auch an den diversen Landesteilungen. Es gab hier in Thüringen eben nicht nur das eine Herzogtum oder Königreich, sondern ganz viele Territorien. Auch die Aufspaltung der Wettiner Herzöge bei der Leipziger Teilung im Jahr 1485 in die albertinische und die ernestinische Linie und der Verlust der Kurwürde an das heutige Sachsen trugen ihren Teil dazu bei. So ging Bedeutung verloren. Zudem wurden ihre Geschichten kaum populär aufbereitet. Das ist schade, denn die Wettiner könnten guten Filmstoff liefern.

Und dass es so viele fürstliche Residenzen in Thüringen gibt, hat mit den zahlreichen Teilungen des Landes zu tun?

Ja. Besonders hier in der Ernestiner-Linie gab es keine Primogenitur, kein Erstgeburtsrecht. Man wollte keinen Sohn im Erbfall vernachlässigen, und die Ländereien wurden daher immer wieder unter den Nachkommen aufgeteilt. Das führte dazu, dass gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf Ernestiner Gebiet bis zu zehn Herzogtümer parallel existierten.

Die Territorien der Ernestiner erstreckten sich also über Gotha hinaus?

Genau, dazu gehörten auch Weimar, Altenburg, Eisenach, Hildburghausen, Meiningen, Saalfeld …

Immer noch ein überschaubares Gebiet. Und darauf zehn Herzogtümer, nur weil man niemanden verärgern wollte!

Und ein Großteil davon lässt sich tatsächlich auf Gotha zurückführen. Auf Ernst I., den Frommen, denn der hatte sieben Söhne. Als er 1675 starb, wurde das Land aufgeteilt in sieben Herzogtümer. Sein erstgeborener Sohn Friedrich, der ihm als Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg folgt, hat dann schleunigst die Primogenitur eingeführt.

Sein Vater ließ ja ab 1643 mit dem Schloss Friedenstein in Gotha eine der größten Palastanlagen des Frühbarocks errichten. Weshalb dachte Ernst I. in so riesigen Dimensionen?

Das Volumen der einzelnen Bauflügel sollte die Bedeutung des Inneren kennzeichnen. Und die Größe war auch durch die Ruine einer vorherigen Festungsanlage vorgegeben.

Wie glamourös können wir uns das Leben am Hof vorstellen? Aktuell ist ja der „Ernestinische Willkomm“ im Herzoglichen Museum Gotha zu sehen. Normalerweise wird der acht Kilogramm schwere, vergoldete Silberpokal auf der Veste Coburg bewahrt. Was hat es mit diesem Objekt auf sich?

Dieses Schmuckstück ist ein Werk des berühmten Goldschmieds Wenzel Jamnitzer, das von Kurfürst Johann Friedrich dem Großmütigen in Auftrag gegeben wurde. Es war ein Pokal, den man Gästen gereicht hat, um daraus zu trinken. Es ist mit vielen Wappen verziert, um zu zeigen, was man an Ländereien und Macht besaß, und so die Gäste zu beeindrucken. Leider war es besagter Johann Friedrich, der 1547 die Kurwürde der Ernestiner an die Albertiner abgeben musste, nachdem er von seinem Vetter Moritz, Herzog von Sachsen, im Schmalkaldischen Krieg besiegt worden war.

Ernestinische Willkomm
Der „Ernestinische Willkomm“ von 1541 ist in der Ausstellung „Chinas Gold und Gothas Schätze“ zu sehen. © Foto: Nora Klein

Welchen Herzog oder welche Herzogin finden Sie selbst eigentlich am spannendsten?

Herzog August von Sachsen-Gotha-Altenburg. Über ihn ist erst in jüngster Zeit wieder mehr geforscht worden. Als Herrscher war er etwas in Vergessenheit geraten, weil er lange als Sonderling und Außenseiter abgetan wurde. Aber ich finde ihn eine wirklich interessante Persönlichkeit. Denn schon damals hat er die Vorstellung, die wir von Männlichkeit haben, und Geschlechterrollen infrage gestellt.

Wie sah dieses Infragestellen konkret aus? Wir sprechen ja vom frühen 19. Jahrhundert – das war damals keine besonders moderne Epoche.

Zum Beispiel war August, der ab 1804 regierte, sehr antimilitärisch eingestellt. Als beim Wiener Kongress ab 1814 die Herrscher Europas über eine territoriale Neuordnung des Kontinents verhandelten, hat ihn das auch nicht interessiert. Er hat sich weder um eine Vergrößerung seines Reichs noch eine Profilierung bemüht, sondern seine Leidenschaft galt der Kunst und der Literatur. August hat selbst mehrere literarische Werke geschrieben, darunter den 1805 veröffentlichten Roman „Kyllenion – Ein Jahr in Arkadien“, der durchaus noch einer heutigen Leserschaft ein Begriff ist.

Worum geht es in diesem Buch?

Der Herzog beschreibt darin Liebesbeziehungen, unter anderem auch eine homosexuelle Liebesbeziehung zwischen zwei Männern. Solche Beschreibungen existieren schon zuvor, aber in „Kyllenion“ endet die Liebe zwischen den beiden Männern nicht tragisch, wie es sonst immer geschildert wurde, sondern positiv – mit einem Happy End! Das war damals etwas Neues und ist das Besondere an diesem Roman.

Der Herzog muss eine faszinierende Person gewesen sein.

Mit Sicherheit galt er als exzentrisch. In einer Zeit, in der das nicht so üblich war, traute er sich trotzdem, einfach so zu sein, wie er war. Im Vorraum seines Audienzzimmers marschierten Pfauen. Er hat sich teilweise auch in Frauenkleidern gezeigt. Oder in Gewändern, die chinesischen Roben nachempfunden waren. Er hatte ein großes Interesse an China und hat viele chinesische Kunstobjekte erworben. Er besaß beispielsweise eine große Sammlung verzierter Fächer, die heute von der Friedenstein Stiftung Gotha bewahrt wird.

Sein Porträt im Schloss von 1807 zeigt ihn allerdings klassisch – als schneidigen Mittdreißiger in Uniform.

Er hat durchaus Gegensätzliches in sich vereint. Obwohl er dem Militär und Kriegen wirklich skeptisch gegenüberstand, war er beispielsweise ein großer Verehrer von Napoleon. Vermutlich hat ihm imponiert, wie Bonaparte es schaffte, Veränderungen durchzusetzen. August ist Napoleon auch einige Male begegnet, und da der Herzog für seinen Witz bekannt war, ist eine Anekdote im Umfeld des Erfurter Fürstenkongresses 1808 überliefert. Da sitzen beide beim Abendessen zusammen, und der Herzog isst nichts. Napoleon fragt ihn, wieso, und August antwortet: „Ich nähre mich von den Strahlen der Sonne, welche mich jetzt bescheint.“

Ein geschicktes Kompliment!

Gleichzeitig war der Sarkasmus von August gefürchtet. Goethe schrieb einmal, er zögere, den Herzog zu besuchen, aus Angst, das Ziel seines Spotts zu werden.

August war verheiratet und hatte eine Tochter, deren Sohn Albert Jahrzehnte später die englische Königin Victoria heiratet. Doch zunächst interessiert uns Augusts Großmutter: Herzogin Luise Dorothea von Sachsen-Coburg-Altenburg. Sie galt den Thüringern als aufgeklärte Regentin.

Sie lebte Mitte des 18. Jahrhunderts und verkörpert daher natürlich noch eine absolutistische Herrscherin, die auch in Religionsfragen streng war und Vorurteile beispielsweise gegenüber Atheisten und Juden hatte. Andererseits war sie gut ausgebildet, intelligent und begeisterte sich für Philosophie, Kunst, Literatur und Wissenschaft. Sie hat auch die Bibliothek der Residenz stark ausgebaut. Zudem unterhielt sie rege Korrespondenzen, unter anderem zu Friedrich II., dem Großen von Preußen und zum französischen Philosophen Voltaire, dem allein sie insgesamt 99 Briefe schrieb.

Herzog August von Sachsen-Gotha-Altenburg
Schön exzentrisch: Herzog August von Sachsen-Gotha-Altenburg besaß eine Porzellantasse, die mit Penissen bemalt ist. © Foto: Nora Klein

Voltaire war ein wortgewaltiger Kritiker der Kirche. Hat das die Herzogin nicht gestört?

Sie war davon wahrscheinlich nicht begeistert, aber es hat sie immerhin interessiert, seine Meinung anzuhören. Sie hat sich anderen Standpunkten nicht verschlossen. Und sie hat berühmten Denkern Asyl angeboten, dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau etwa, der das Angebot jedoch nicht annahm. Voltaire dagegen weilte kurzzeitig bei ihr in Gotha, nachdem er in Potsdam mit Friedrich dem Großen aneinandergeraten war. Luise Dorothea können wir natürlich nicht als Demokratin begreifen, weil sie dem Volk kein Mitspracherecht zubilligte, sondern die Vernunft zum Regieren auf die adeligen Familien beschränkt sah. Sie soll sich, außergewöhnlich für eine Frau ihrer Zeit, auch in die Politik ihres Ehemanns, des Herzogs Friedrich III., eingemischt haben.

Es gibt ja einige sehr mächtige Frauen bei den Ernestinern. Queen Victoria, die ebenfalls dieser Linie entstammt, herrschte als englische Königin über den halben Erdball.

Und ein ganzes Zeitalter wird dann nach ihr benannt! Ja, im 19. Jahrhundert zeigen sich die Ambitionen der Ernestiner. Zwar ist der Zweig Sachsen-Gotha-Altenburg 1825 ohne männlichen Erben ausgestorben. Aber Augusts Tochter Luise hat in die Familie Sachsen-Coburg-Saalfeld eingeheiratet, und 1826 ist durch eine Länderneuaufteilung das Doppelherzogtum Sachsen-Coburg und Gotha entstanden. Der Coburger Zweig bemüht sich viel stärker um internationale Anerkennung. Es beginnt die berühmte Heiratspolitik der „Coburger“. Eine Schwester von Herzog Ernst I. hat 1796 in die russische Zarenfamilie eingeheiratet. Und bald gibt es noch mehr Verbindungen in europäische Königshäuser.

Wie geschieht das?

Herzog Ernst I. und sein jüngster Bruder Leopold sind ehrgeizige Menschen. Besonders Leopold gilt als charismatisch und gut aussehend. 1816 heiratet er die englische Kronprinzessin Charlotte, die leider schon ein Jahr später im Kindbett stirbt. Charlottes Vater – King George IV. – ist damals Mitte fünfzig, und es scheint ausgeschlossen, dass er weitere Nachkommen zeugen wird. Also vermittelt Leopold schnell die Ehe seiner Schwester Victoire, Prinzessin von Sachsen-Coburg-Saalfeld, mit Herzog Edward of Kent and Strathearn. Der ist ein jüngerer Bruder des englischen Königs.

Jetzt beginnt der Wettbewerb um die Thronfolge.

Genau. Victoire bringt 1819 ihre Tochter Victoria zur Welt. Edward stirbt bereits acht Monate später. Sein älterer Bruder William wird zwar 1830 noch König, schafft es aber selbst nicht mehr, Nachkommen zu zeugen. Bei seinem Tod 1837 besteigt daher Victoria mit 18 Jahren den Thron.

Auch sie braucht natürlich einen standesgemäßen Gemahl!

Den sieht Leopold, der mittlerweile in Belgien vom Nationalkongress zum König gewählt wurde, in seinem Neffen Albert – dem Sohn von Luise und seinem Bruder Ernst. Albert wird von seinem Onkel Leopold auf die Rolle gezielt vorbereitet. Victoria hingegen will sich eigentlich noch nicht durch eine Eheschließung einschränken. Aber als die beiden einander vorgestellt werden, ist sie doch angetan von Albert. Im Oktober 1840 hält Victoria um seine Hand an. Ich glaube schon, dass sie sehr verliebt war und die Hochzeit wollte.

Alfred wird 1893 Herzog in Gotha. Der Sohn von Queen Victoria war zuvor Großadmiral der Royal Navy und erhält daher ein Badezimmer mit Muscheldekor in der Wanne
Alfred wird 1893 Herzog in Gotha. Der Sohn von Queen Victoria war zuvor Großadmiral der Royal Navy und erhält daher ein Badezimmer mit Muscheldekor in der Wanne. © Foto: Nora Klein

Leopold verkuppelt also seine Nichte und seinen Neffen. Die englische Krone ist damit sicher in Familienhand.

Und umkehrt: Das Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha erhält durch Großbritannien Unterstützung. Als 1893 Herzog Ernst II. ohne Erben stirbt, geht die Nachfolge an die Söhne der englischen Königin über. Der Kronprinz schlägt das natürlich aus, so wird Victorias zweitältester Sohn Alfred neuer Herzog. Er spricht am schlechtesten Deutsch und würde lieber Großadmiral der Royal Navy bleiben. Um ihn milde zu stimmen, wird hier im Schloss ein Badezimmer im Stil einer Kajüte mit maritimen Details eingebaut.

Bemerkenswert. Und stimmt die Anekdote, dass Albert den Weihnachtsbaum in Großbritannien eingeführt hat?

Ja, das Aufstellen eines Weihnachtsbaums war eine gängige Tradition im Süden und Osten Deutschlands. Albert brachte diese in den Buckingham Palace mit. 1848 erschien in der Zeitschrift Illustrated London News ein Bild der Königsfamilie vor einem geschmückten Baum. Natürlich wurde das sofort landesweit nachgemacht. Und so hat sich der Brauch des Weihnachtsbaums auch in Großbritannien verbreitet. 

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