Bild meines Lebens

David Chipperfield über Roger Fenton

David Chipperfield erhält den diesjährigen Pritzker-Preis, die renommierteste Auszeichnung der Architektur-Branche. Mit der Weltkunst teilte er exklusiv das Bild seines Lebens: Roger Fentons Fotografie der „Rievaulx Abbey“

Von David Chipperfield
09.03.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 126

Roger Fenton, einer der frühen britischen Fotografen, ist für seine Aufnahmen des Krimkrieges berühmt, aber er war auch ein großartiger Landschafts- und Architekturfotograf. Ich mag sein Bild des Zisterzienserklosters in Yorkshire, weil es auf die Beziehung zwischen Architektur und Natur sowie auf seine Ideen zu Dauer und Vergänglichkeit anspielt. Außerdem ist es eine wunderbare Fotografie. Seine Frau sitzt da, um den idyllischen Aspekt des Ortes zu betonen. Je länger man hinsieht, desto mehr merkt man, wie ausgefeilt die Komposition ist. Fenton hat einen hohen Standpunkt eingenommen, um diesen Blick zu haben. Nur früh am Morgen kann man Licht und Schatten so festhalten. Er dokumentiert den Moment nicht nur, er intensiviert das, was da ist.

Roger Fenton Rievaulx Abbey
Roger Fentons Fotografie der „Rievaulx Abbey“ aus dem Jahr 1854. © Gilman Collection, Purchase, The Horace W. Goldsmith Foundation Gift, through Joyce and Robert Menschel, 2005

Die Abtei, die der Reformation und der Auflösung der Klöster unter Heinrich VIII. zum Opfer fiel, ist in ihrer Beziehung zur Landschaft noch schöner geworden. Die Ruine ist mehr ein mächtiger Nachweis der menschlichen Errungenschaften, als dass sie die Leistung eines Einzelnen darstellt. Paradoxerweise weist ausgerechnet ihre Diskontinuität auf die dauerhaften Bestrebungen der Zivilisation hin. Ich mag die Idee, dass Architektur und Natur eins sind. Das Bild zeigt Architektur in ihrem reinsten Zustand, entblößt jeder Funktion. Sie vertraut nur auf die Formen und das Material, das aufgrund seiner Schönheit überlebt hat. Architektur gründet sich auf praktische Belange und Verantwortlichkeiten, aber in ihren besten Momenten versucht sie, andere, abstraktere und erfahrbare Qualitäten zu finden. Sie sind nicht Teil der funktionalen Anforderungen, sie fallen nicht leicht und sind oft unterschätzt. Gegenwärtig neigen wir dazu, Architektur nach ihrer Performance zu rechtfertigen, dadurch unterschätzen wir ihr physisches und erfahrbares Potenzial. Diese Fotografie erinnert uns an die mögliche Schönheit der Architektur.

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