Jean-Jacques Sempé bei Artcurial

Das Kleine im Großen

Das Pariser Auktionshaus Artcurial widmet dem Zeichner Sempé eine komplette Auktion – die viel feinen Humor und Frankreichgefühl vermittelt

Von J. Emil Sennewald
14.06.2021
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 10

Wie unter einem Schlaglicht scheint er auf, allein, gekrümmt auf seinem Fahrrad, mit Schutzpolstern gesichert, im schwarzen hautengen Anzug, umbraust vom Verkehr, der sich im von Hochhäusern verstellten Horizont verliert. Als Jean-Jacques Sempé 2009 mit Tusche und Aquarell den New Yorker Fahrradkurier auf Papier brachte, der am 19. Juni bei Artcurial für 30.000 Euro aufgerufen wird, wusste er, wie es sich anfühlt, allein mit Drahtesel in der großen Stadt. So hatte er angefangen, damals, nachdem er mit knapp Fünfzehn von der Schule gegangen war, die er zuvor bereits kriegshalber zwei Jahre lang nicht mehr besucht hatte: als Fahrradkurier. Dann verkaufte er Zahnputzpulver, lieferte Wein aus, ging mit Papieren, in denen er sich älter machte, zum Militär, gelangte aus seiner Heimatstadt Bordeaux nach Paris. 1951 war das, mit fast Neunzehn tauchte er ein in das Fieber der Großstadt, das Getümmel und Gehupe. Immer mit dem Fahrrad, dreißig weitere Jahre sollte das sein Verkehrsmittel bleiben, während er nach und nach sein Geld mit Zeichnungen verdiente, deren feiner Strich, genaue Beobachtung und liebevoller Blick auf Mensch und Gesellschaft ihn zu jenem „Sempé“ machten, dessen Name bis heute für Frankreich-Gefühl sorgt.

Jetzt scheint das Pariser Auktionshaus mit einer allein diesem Zeichner gewidmeten Versteigerung eine neue Marke setzen zu wollen, taxiert 15 der 54 Lose mit 30.000 Euro. Mutig: Bisher schafften es Sempés Werke bei Auktionen nicht über 28.500 Euro – diesen Rekord erreichte Artcurial selbst 2010 mit einer Szene aus dem Petit Nicolas, dem größten Erfolg des Zeichners. „Er ist unsterblich geworden, weil er bereits bei seiner Erschaffung aus der Zeit gefallen war“, sagt der heute 88-jährige Sempé über den jungen Helden der Kinderbuchserie, den er für Autor René Goscinny mit seinem Strich zum Leben erweckte. Vom kleinen Nicolas wird diesmal kein Originalbild bei Artcurial angeboten, sein Esprit allerdings ist allgegenwärtig.

Jean-Jacques Sempé Artcurial
Mit Schutzpolstern gesichert kämpft sich ein Fahrradkurier durch den dichten New Yorker Verkehr. „Le coursier“ (Tusche und Aquarell, 2009, 34 x 23,8 cm) ist eine von 15 Arbeiten Sempés, die Artcurial auf 30.000 Euro schätzt. © Artcurial, Paris

Zum Beispiel in dem wunderbaren, 2011 im New Yorker veröffentlichten Blatt „Different scales“, auf dem zunächst ein imposanter Musiklehrer am Piano ins Auge fällt, umstellt von großen Instrumenten. Dann wandert der Blick auf das kleine Mädchen, das unsicher in der Tür am Kopfende des Raumes steht, einen winzigen Geigenkasten in der Hand (Los 9, Taxe 30.000 Euro). So ähnlich mag es Jean-Jacques gegangen sein, als er 1954 den damals bereits weit gereisten, sechs Jahre älteren René Goscinny in einem belgischen Pressebüro auf den Champs Elysées begegnete. Der Zweiundzwanzigjährige Sempé überwand seine Scheu, eine Freundschaft entstand, bereits Ende März 1959 kam Petit Nicolas auf die Welt, dessen Alltagserlebnisse und Abenteuer Resonanzraum für eine Gesellschaft im Aufbruch werden sollten, die in ihm menschliche Wärme und die Einfachheit des Miteinanders fand.

Das Kleine im Großen, das Anrührende im Überwältigenden sind Leitmotive in Sempés Zeichnungen, durch die man bisweilen das Vogelzwitschern im Jardin du Luxembourg oder die melancholischen Trompeten klingen zu hören meint, wie sie zwei Musiker am nächtlichen Swimmingpool spielen, der als große hellblaue Raute à la David Hockney das Bild beherrscht (Los 10, Taxe 30.000 Euro). Für den New Yorker, der dieses Bild am 21. August 1989 auf den Titel setzte – an dem Tag, an dem Demonstrationen in Prag die Samtene Revolution einleiteten (einen Monat zuvor hatte die Sowjetunion ihre Truppen aus Afghanistan abgezogen). Sempé arbeitete seit 1978 für das berühmte Kulturmagazin, für das er insgesamt rund hundert Bilder schuf.

Jean-Jacques Sempé Artcurial
Sempé zeichnete das Cover „4th of July“ (Tusche und Aquarell, 53,5 x 35 cm) für den „New Yorker“ zum amerikanischen Nationalfeiertag 1987. Artcurial rechnete mit mindestens 30.000 Euro. Die Zeichnung verdoppelte ihre Schätzung. © Artcurial, Paris

Als Los 15, auf 25.000 Euro taxiert, gibt „Fresh Intoxication“, ein im frühlingshaften Park spazierender, fröhlich dreinblickender Büroangestellter, einen Eindruck des oft ambivalenten Witzes von Sempé. In einer anderen New-York-Szene sieht man zahllose Radfahrer sich durch undurchdringliche Automassen drücken (Los 23, Taxe 15.000 Euro) oder in einer kleinen Bildgeschichte einen New Yorker Radfahrer sein geliebtes Drahtgefährt aus Furcht vor Diebstahl komplett demontieren, um schließlich keine Zeit mehr für die eigentliche Erledigung zu haben (Los 52, Taxe 15.000 Euro). Ob groß oder klein, ob New York oder Paris – bei Sempé geht es immer um die mehr oder weniger gelungene Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umgebung. Exemplarisch steht dafür die kleine, zerbrechliche Ballerina im Riesen-Studio, die er 1987 tuschte und aquarellierte (Los 12, Taxe 30.000 Euro): Ein Spannungsfeld aus Lebensfreude und dem überwältigenden Umraum, in dem sie sich behaupten muss.

Ob diese Ambivalenz noch aus seiner Kindheit herüberscheint, die vom Dauerstreit der Eltern geprägt war, von häufig abrupten Umzügen, weil die Kasse am Monatsende wieder leer war, von dem Gefühl, eigentlich mit Verrückten zusammenzuleben – und folglich als Junge bereits die Verantwortung für die Erwachsenen mit zu übernehmen? Derlei Psychologismen greifen meist zu kurz. Sicher ist: der feine Witz von Sempé schlägt Funken aus scheinbar harmlosen Szenen des Lebens, das immer bedroht erscheint. Wieder exemplarisch ist dafür das Cover, das er für den New Yorker zum amerikanischen Nationalfeiertag 1987 zeichnete: Einem von roten und blauen Ballons verstopften Himmel steht ein mit Köpfen ebenso vollgestopfter Park mit einem patriotisch geschmückten Musikpavillon entgegen. Alle Blicke sind auf einen Jungen gerichtet, der, hochrot, von seiner Lehrerin ausgeschimpft wird. Als einziger will er seinen schönen roten Ballon nicht fliegen lassen. Die Intelligenz und Zugewandtheit, mit der Los 7 (ebenfalls auf 30.000 Euro taxiert) die Spannung zwischen dem Glück des Einzelnen und dem Druck der Gemeinschaft – auch das ein wiederholtes Thema bei Sempé – gerade in den USA der Reagan-Zeit aufspießt, ist faszinierend – und zaubert dem Betrachter dieses Schmunzeln ins Gesicht, das jeder kluge Scherz erzeugt, der zum Selberdenken anregt.

Service

AUKTION

Artcurial Paris,
Auktion 19. Juni,
Besichtigung 15. – 18. Juni
www.artcurial.com

Zur Startseite