Niemand fing den Schaum der Wellen, die Wärme der Sonne und das Funkeln des Meeres so ein wie Joaquín Sorolla. Folge 8 seiner Kolumne „Was mich berührt“ widmet Daniel Schreiber dem spanischen Maler und seinem überschwänglichen Licht
ShareAn manche Ausstellungen erinnern wir uns viele Jahre lang, vielleicht sogar ein ganzes Leben. Doch oft handelt es sich dabei nicht um jene, von denen wir dachten, dass sie bedeutend für uns sein werden. Wie gut sind einem noch die Werke jener Blockbusterschau von vor ein paar Jahren im Gedächtnis, in der man Schulter an Schulter mit Hunderten anderen Besuchenden versuchte, den Blick auf einen Mantegna, einen Cézanne oder einen Pollock zu erhaschen? Ich weiß noch, wie lange ich mich auf eine große Berthe-Morisot-Ausstellung im Musée d’Orsay gefreut habe, nur um durch überfüllte Räume zu stampfen und den Erschütterungen meines Glaubens an die Menschheit nachzuspüren. Danach hatte ich vor allem das unbestimmte Gefühl, etwas verpasst zu haben.
Vielleicht geht es dabei auch um Erwartungshaltungen. Einige meiner nachhaltigsten Kunsterfahrungen habe ich in Ausstellungen gesammelt, auf die ich mich nicht wirklich gefreut habe. Vor ein paar Jahren etwa bekam ich den Auftrag, über eine Joaquín-Sorolla-Schau in der Fundación Mapfre in Madrid zu schreiben. Ich war eigentlich nicht in der psychischen Verfassung für eine Reise, da ich mich inmitten eines Buchprojekts befand, das ich nur ungern unterbrechen wollte. Ich flog trotzdem nach Madrid und verbrachte fast zwei Stunden mit den Bildern Sorollas.
Ich hatte solche Arbeiten noch nie gesehen. Sie schienen auf eine verwirrend direkte Weise mit mir zu kommunizieren. Die Garten-, Meer- und Landschaftsbilder des Malers steckten voll ungeahnter narrativer, poetischer und emotionaler Nuancen. Besonders seine funkelnden Strandszenen und ihre Figuren in gleißendem Weiß hatten etwas Hypnotisches. Ohne sagen zu können, warum, ließen sie mich nicht mehr los.
Zu meiner Schande hatte ich zuvor noch nie etwas von Joaquín Sorolla-y-Bastida gehört. In seinem Heimatland gehört der 1863 in Valencia geborene Maler zu den wichtigsten Künstlerinnen und Künstler überhaupt, er gilt als jemand, der das Erbe der spanischen Malerei, das Erbe von El Greco, Velázquez und Goya in gerader Linie fortführt. Ein ganzes Museum in Madrid ist ihm gewidmet, und selbst der Prado verfügt über einen Saal, der ausschließlich seine Werke zeigt. Auch in den USA verfügen viele Sammlungen größerer Museen über Sorollas, das Metropolitan Museum of Art etwa, das Art Institute of Chicago oder die New Yorker Hispanic Society. Im Rest Europas hingegen geriet der Maler nach seinem Tod 1923 immer mehr in Vergessenheit.
In gewisser Hinsicht wurde Sorolla Opfer einer sich wandelnden Kunstgeschichtsschreibung. Seine Arbeiten waren ausdrücklich nicht modern. Sie wirkten, als seien sie in einem anti-avantgardistischen Naturalismus gefangen, der malerisch zwar beeindruckend ist, aber irgendwie aus der Zeit gefallen schien. Wie andere Malende, die auf den internationalen Ausstellungen und Wettbewerben um die Jahrhundertwende noch überwältigende Erfolge bei der Kritik gefeiert und immer wieder Besucherrekorde aufgestellt hatten – Anders Zorn etwa, John Singer Sargent, James Tissot oder James McNeill Whistler – wurde er zunehmend auf die Rolle eines Repräsentanten des späten, großbürgerlichen 19. Jahrhunderts reduziert.
Auch in mir machte sich zunächst ein gewisser Widerstand bemerkbar, als ich die ersten Bilder Sorollas sah. Die Ausstellung erschloss sein Vermächtnis chronologisch und vor allem der soziale Realismus seines Frühwerks irritierte mich. In den Bildern der „einfachen Menschen“ seiner Zeit war eine merkwürdige Ästhetisierung augenfällig, die ich nicht einordnen konnte. Beseelt nähten Frauen, umgeben von Weinranken und Kletterrosen, am Segel eines Bootes. Alternde Fischer zogen ihre Boote nach getaner Arbeit in der orangenen Abendsonne an den Strand.
Sorollas bekannte „Otra Margarita“ von 1893 – eines von vier Gemälden, die er zur Weltausstellung in Chicago schickte, wo es eine Ehrenmedaille gewann und den Grundstein für seinen Ruhm in den Vereinigten Staaten legte – zeigte eine junge, von zwei bewaffneten Polizisten bewachte schöne Frau, eine Kindsmörderin, in einem Eisenbahnwaggon. Es war kein rundum gutes, aber ein beeindruckendes Bild. Nicht wegen des inhärenten Dramas, sondern wegen der dazu geradezu im Kontrast stehenden altmeisterlichen Könnerschaft: Jeder Pinselstrich saß, jeder noch so subtile Lichtreflex brillierte, jede Farbnuance stimmte. Die Arbeit zeichnete sich nicht durch kühlen Realismus aus, sondern durch einen warmen, fast schon von innen leuchtenden Glamour.
Ohne viel über Sorolla zu wissen, hatte ich den Eindruck, dass sich hier ein bourgeoiser Patriarch einer merkwürdig sexualisierten Sozialromantik hingegeben hatte. Doch der Eindruck täuschte. Vielmehr hatte der Maler seinen Blick auf ein Herkunftsmilieu verewigt, dem er entflohen war. Von einem Waisenkind, das in einfachen Verhältnissen bei Verwandten in Valencia aufwuchs, hatte er sich mit Stipendien in Rom und Madrid in die erste Riege der europäischen Künstlerinnen und Künstler hochgearbeitet.
Seine Ausstellungen in Paris und London und später auch New York, Boston, Chicago und St. Louis waren vielbeachtete Medienereignisse, er wurde von Kunstsammelnden in der ganzen Welt unterstützt. Sorolla hatte es malend geschafft, in eine andere soziale Schicht aufzusteigen. Der Glamour seiner sozialrealistischen Bilder changierte irgendwo zwischen Nostalgiegefühlen und Abgrenzungsversuchen. Vielleicht erklärte das auch seine distanzierte Haltung zur Avantgarde. Die bürgerliche Welt, gegen die die Avantgarde rebellierte, hatte ihm seine Lebensgrundlage geschenkt. Warum sollte er, der sich mit seiner Familie in einem fürstlichen Haus in Madrid niederließ und seine Sommer am Meer verbrachte, das infrage stellen.
Je länger ich durch die Ausstellung ging, desto stärker faszinierte mich Sorolla. Saal für Saal ließen sich Entdeckungen machen. Ein ganzer Raum war intimen, flüchtigen Gouachen gewidmet, die er während seiner langen Reisen durch Amerika auf das feste Papier malte, das die Hotelwäschereien gestärkten Hemden beilegten, damit diese ihre Form bewahrten.
Atmosphärische, aus dem Fenster hoher Stockwerke beobachtete Tag- und Nachtszenen von der Fifth Avenue waren darunter, vom Central Park und vom Grand Army Plaza. So genau traf der Maler das Licht, die Farben und Stimmungen dieser Orte, dass man sie auch noch hundert Jahre später wiedererkennen konnte. Liebevolle Familienporträts wechselten sich mit glänzenden Auftragsarbeiten ab, die die Reichen und Mächtigen der Welt zeigten, unter ihnen die Magnatin Frances Tracy Morgan oder der Schmuck- und Glaskunstunternehmer Louis Comfort Tiffany. Tiffany war da in einem schneeweißen Anzug in seinem Garten auf Long Island zu sehen, vor einer Staffelei und mit einem emphatisch ausufernden, gelb-weiß-blauen Blütenmeer im Hintergrund, das so strahlte wie seine berühmten Lampen und Glasfenster.
Einigen Werken der Ausstellung gelang es, sogar diese Sinnlichkeit noch zu übertrumpfen. Sorolla, ein unglaublich produktiver Maler, schuf um die 4200 Gemälde und unzählige Gouachen und Zeichnungen. Doch zu seinem bleibenden Vermächtnis sollten seine Strandszenen werden, die auf eine fast magische Weise den Luminismus des Mittelmeers inszenierten.
In „Paseo a orillas del mar“ von 1909, wahrscheinlich Sorollas bekanntestem Gemälde, spazierten seine Tochter Maria und seine Frau Clotilde in aufsehenerregend weißen Kleidern den Strand von Valencia entlang, den ausladendenden weißen Hut auf dem Kopf festhaltend, einen aufgeplusterten weißen Sonnenschirm in der Hand, mit wehenden weißen Schleiern im salzigen Wind. Es ist ein Gemälde, das einen förmlich zu blenden scheint, ein Bild von einer absurden Schönheit, dessen Wirkung sich auf keinem Foto reproduzieren lässt. In anderen Strandszenen schwammen Jugendliche zu im tiefen Wasser liegenden Booten. Kleine Kinder spielten ausgelassen am Strand. Familien in Sonntagskleidung saßen im Schatten großer Sonnenschirme im Sand. Der Schaum der Wellen, die Reflektionen des Wassers, die eigenartige Transparenz der Seeluft – alles war hier in schnellen, fast schon zeichenartigen Pinselstrichen festgehalten. Und über allem lag das urgewaltige Licht des östlichen Spaniens, gebrochen, gespiegelt und verstärkt von den Wellen des Meeres.
Der Naturalismus dieser Bilder schien sich seine Sprache bei den französischen Impressionisten geliehen zu haben. Reinstes Weiß stand ungemischt neben Blau-, Grün- und Violetttönen. Selbst die Schatten, lila, purpurn, braun, schienen keine Dunkelheit zu kennen. Es existieren einige Fotos von Sorolla, wie er vor einer Leinwand am Strand steht und malt.
Es ist schlicht unvorstellbar, wie es diesem Mann, einem lebenslangen Verfechter der Plein-air-Malerei, in seinem dunklen Anzug und mit seinem steifen Hut gelang, diese Bilder, diese atmenden Atmosphären und kristallinen Sehnsüchte zu schaffen. Das Licht in diesen Gemälden verwandelt alltägliche Szenen in singuläre Erinnerungsbilder, taucht sie ein strahlendes Schauspiel von Farbe und Glanz, das piktoriale Grenzen zu überschreiten scheint. Sorrollas Mittelmeerszenen sind eine überschwängliche, fast radikale Feier der Möglichkeiten der Malerei. Eine Feier der einzigartigen Erfahrung, am Leben zu sein.
Auch heute muss ich noch oft an diese Arbeiten denken. Immer dann etwa, wenn sich wie jetzt die ersten Sommertage am Horizont ankündigen, immer wenn ich eigentlich ans Meer möchte und nicht kann. Ich weiß auch heute noch, was in mir vorging, als ich durch jene Ausstellung ging, welche Stimmungen Sorollas Strandszenen in mir auslösten: Ich konnte förmlich spüren, wie matt und entspannt mein Körper nach einem langen Tag am Atlantik oder am Mittelmeer ist, wie sich meine Haut nach vielen Stunden in der Sonne anfühlt, wie die salzige Luft den Griff meines Haars verändert. Wie anders die Zeit am Meer zu verlaufen scheint und wie ich mir wünsche, dass sie niemals enden wird. Als ich die Ausstellung verließ, hatte ich das Gefühl, zwei Stunden lang dem Rauschen am Strand brechender Wellen zugehört zu haben. Was für eine einzigartige, was für eine grandiose Erfahrung.
„Sorolla a través de la luz“,
bis 30. Juni,
Palacio Real, Madrid
„En el mar de Sorolla con Manuel Vincent“,
bis 17. September,
Museo Sorolla, Madrid