Von den Felsblöcken in Stonehenge bis zu Vermeers Modell mit dem Perlenohrring: Selbst bei berühmten Kunstwerken gibt es Wissenslücken, die mit aufwendiger Forschung nicht zu schließen sind. Was den Reiz der geheimnisvollen Werke nur erhöht
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19.12.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 235
Es gibt zahlreiche Auftragsporträts des niederländischen Barock, gemalt von Meistern wie Rembrandt oder Frans Hals. Von deren Kollegen Johannes Vermeer jedoch ist kein einziges überliefert. Seine Figuren blieben für die Kunstgeschichte namenlos. Natürlich hat das die Spekulationen über Vermeers berühmtestes Bild nur angeheizt: Wer saß wohl Modell beim „Mädchen mit dem Perlenohrring“? Hartnäckig hält sich die Vermutung, das Werk zeige Maria, die Tochter des Malers, die im Entstehungszeitraum 1664–1667 zwischen zehn und 13 Jahren alt war. Aber es findet sich kein Beweis für diese These. Vermeer schuf eine Tronie, ein Charakterporträt eines anonymen Mädchens. Einig ist sich die Forschung immerhin, dass die Perle am Ohrring aus Glas gewesen sein muss. Denn eine echte in dieser Größe hätte sich zu jener Zeit ein Maler niemals leisten können. Und eine junge Frau ohne Namen sicher auch nicht.
Das Schicksal von Franz Marcs „Turm der blauen Pferde“ bewegt in Deutschland wie kein zweites verschollenes Kunstwerk die Gemüter. Die 1913 gemalten Rösser, kristallin gebrochen, in flackerndem Blau, dahinter eine strahlende Hemisphäre, wurden schnell berühmt. Seit 1919 hatte das Bild einen Ehrenplatz in der Nationalgalerie in Berlin – bis die Nazis es konfiszierten und 1937 in der Ausstellung „Entartete Kunst“ an den Pranger stellten. Hermann Göring erwarb es dennoch für seine Sammlung. Direkt nach dem Krieg wurde das Bild noch in Berlin gesehen, seitdem wurden zahllose Spuren verfolgt, vergeblich. Zuletzt behauptete der Sammler Jan Ahlers 2001, Kontakt zu den vermeintlichen Besitzern zu haben. Der „Turm der blauen Pferde“ sei in einem Zürcher Banksafe. Die Aufregung war groß, aber auch diese Spur führte ins Nichts.
Caravaggio malte die „Enthauptung Johannes’ des Täufers“ 1608 auf Malta, wo er zum Ritter des Malteserordens geschlagen wurde und wo das Bild noch heute zu sehen ist. Michelangelo Merisi da Caravaggio hat nur dieses eine Werk signiert, und zwar so rot wie das Blut aus dem Haupt des Täufers. Bezeugt das „f“ vor seinem Namen, dass er Bruder („frater“) der Malteser war? Oder steht es für „feci“ (ich tat es) und ist vielleicht auch ein Geständnis des Totschlags, in den er in Rom verwickelt war? Eine zweifelsfreie Erklärung ist nicht in Sicht.
Ein Kondor, ein Wal, ein Baum: Das sind nur drei der Hunderte von Scharrbildern, die uns das Volk der Nazca in der Wüste Perus hinterlassen hat. Die monumentalen Werke, entstanden durch das Abtragen der obersten Erdschicht, beflügeln seit 100 Jahren die Fantasie der Forscher. Konzentrierten sich frühe Theorien auf die Ausrichtung der Bilder nach Himmelskörpern, deuten jüngste Ausgrabungen auf eine Rituallandschaft für Wasserkulte hin. Das Rätsel bleibt, weil die Nazca um 600 n. Chr. ohne Schriftzeugnis verschwanden
Der mächtige romanische Dom in Mainz prägt bis heute die Stadt. Aber schon in den Jahrhunderten vor 1000 gab es hier eine Kathedrale. So berichtet ein Chronist, dass Erzbischof Hatto I. (891–913) den Dom „durch einen edlen Bau“ verschönerte. Es war lange ein Rätsel, wo diese bedeutende Kirche aus der Karolingerzeit zu lokalisieren ist. Unter dem heutigen Dom (wo sich bei Grabungen nie Reste des Vorgängers fanden)? Oder hat sich der Hatto-Bau in der eher unscheinbaren Johanniskirche westlich der Kathedrale erhalten? In der Forschung wurde dies sehr kontrovers diskutiert – bis man in St. Johannis 2013 beim Einbau einer Heizung zufällig auf Baureste des 9. Jahrhunderts stieß. Seither wird die Kirche in einer aufwendigen Kampagne archäologisch untersucht. Dabei schälten sich zahlreiche, zum Teil 10 Meter hohe Reste des Hatto-Baus und seiner Vorgänger heraus. Als dann 2019 auch noch das Grab eines Erzbischofs auftauchte, stand fest: Der alte Mainzer Dom war gefunden.
Partial file not found: /var/www/html/wp-content/themes/weltkunst-portal/modules/article/page-break.phpEs ist immer wieder bewegend, den Bamberger Reiter zu sehen. Um 1230 geschaffen, spricht er uns auch nach 800 Jahren unmittelbar an. Im Mittelalter war er einzigartig, mit dem lebensechten Gesicht, der lässigen Haltung auf dem Pferd, aber auch in der Aufstellung an einem Pfeiler mitten in einer Kirche, dem Bamberger Dom. Aber wen oder was stellt er dar? Den heiligen Ungarnkönig Stephan, den in Bamberg ermordeten Philipp von Schwaben, einen anderen Herrscher des Staufergeschlechts? Symbolisiert er den Messias oder die Gesamtheit der Welt? Nur eines ist klar: Die gelehrten Spekulationen werden noch lange weitergehen.
Niemand hätte je Jan van Eycks alleinige Urheberschaft an dem monumentalen Altar in der Kathedrale von Gent bezweifelt (im geschlossenen Zustand). Die 20 Tafeln sind in ihrer malerischen Sprache einheitlich und eng mit allen anderen gesicherten Werken des Niederländers verbunden. Der 1432 vollendete Flügelaltar ist das Initialwerk, mit dem er die Malerei revolutionierte und seinen lebensechten Realismus entwickelte. Aber es gibt eben diese Inschrift auf der Außenseite: „Der Maler Hubert Eyck, der größte, der sich je fand, hat dieses Werk begonnen, und sein Bruder Johannes, in der Kunst der Zweite, hat die schwere Aufgabe vollendet.“ Schriftquellen bezeugen Hubert, aber es scheiterten alle Versuche, ihm Werke zuzuweisen oder die Anteile der Brüder am Genter Altar zu unterscheiden. Zahllose Kunsthistoriker haben versucht, das Mysterium des Hubert van Eyck zu lösen. Vergeblich.
Über kaum ein Kunstwerk wurde so viel geschrieben wie über Albrecht Dürers Kupferstich von 1514. Um was es geht, steht im Titel. Doch wie sich die vielen Details zusammenfügen, hat die klügsten Geister beschäftigt. Dürer war humanistisch gebildet und interessierte sich für die Mathematik und andere Wissenschaften. Der Polyeder, die Kugel, die handwerklichen und wissenschaftlichen Geräte, der Mühlstein, die Waage, die Sanduhr oder das Zahlenquadrat: Wir müssen davon ausgehen, dass Dürer alles mit genauem Kalkül einsetzte. Gewiss hat die Melancholie, die er als Frauenfigur mit Flügeln darstellt, mit der Idee von seinem eigenen schöpferischen Künstlertum zu tun. Womöglich litt er selbst an Depressionen. Ein schlüssige Generaldeutung gibt es nicht, dafür aber zahlreiche Abhandlungen, die zeigen, zu was eine intellektuelle Kunstwissenschaft fähig ist.
Es gibt viele Rätsel um Stonehenge in Südengland. Halten wir uns an das Funktionale: Wozu diente das kreisförmige Bauwerk? Vielleicht war es ein Sonnenkalender. Kultische Handlungen spielten sicher auch eine Rolle. Mittlerweile weiß man, dass die Sandsteinblöcke des inneren und äußeren Rings aus einem 25 Kilometer entfernten Sandstein vorkommen stammen. Vor ein paar Jahren ergab sich, dass die kleineren „Bluestones“ einen 225 Kilometer langen Weg von Wales über das Meer zurücklegten. Noch größer war die Überraschung, als im August eine neue britischaustralische Studie veröffentlicht wurde. Das Ergebnis: Der zentrale Altar stein kommt recht eindeutig aus Nordschottland, 750 Kilometer von Stonehenge entfernt. Warum musste es unbedingt dieser Stein sein? Und wie war das tonnenschwere Ungetüm damals zu transportieren? Schon gibt es neue Rätsel.
Leonardo da Vinci arbeitete seit 1503 in Florenz am größten malerischen Auftrag, den er je erhalten hatte. Die Stadtrepublik wünschte sich für den Ratssaal des Palazzo Vecchio ein Wandbild, das die siegreiche Schlacht von Anghiari gegen die Mailänder verewigen sollte. Michelangelo bat man für den gleichen Ort um die Schlacht von Cascina. Während Letzterer nur Vorzeichnungen lieferte, begann Leonardo mit den Malarbeiten. Zeichnungen von ihm und anderen (ein anonymes Blatt, das Rubens überarbeitete) zeigen, welch neuartige Figurendramatik Leonardo hierfür entwickelt hatte. Doch 1506 brach er das Projekt ab. Die faszinierende Frage: Haben sich Partien unter Vasaris Schlachten bildern erhalten, die Leonardos Bildtorso ersetzten. Seit 1967 versuchten mehrfach Kunsthistoriker, mit Sonden oder Infrarot hinter Vasaris Fresko Reste von Leonardos Schlachtenbild aufzuspüren. Außer ein paar Pigmenten fanden sie nichts. Wir dürfen weiter vom Meisterwerk hinter der Wand träumen.