Die Schriftstellerin Annabelle Hirsch hat den renommierten Farbhistoriker Michel Pastoureau im Pariser Vorort Boulogne besucht. Eine bunte Geschichte der Welt von den Barbaren bis zu Barbie
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16.08.2024
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 230
Zu seiner wichtigsten Erkenntnis in Sachen Farbe kam der französische Farb- und Tierhistoriker Michel Pastoureau eigenen Angaben zufolge erst vor Kurzem: „Ich kann eine Stunde lang im Radio über Farben referieren, über das Rot, das Grün, das Gelb, kann sogar in einer Universität über ein so spezifisches Thema wie ‚Das Rosa bei Picasso‘ oder ‚Das Blau bei Matisse‘ sprechen und eines kaputten Projektors wegen kein einziges Bild zeigen. Es wird sich nie jemand beschweren. Es stört einfach nicht, dass man die Farben, um die es geht, nicht sieht – und was sagt uns das?“, fragt er, sich konspirativ nach vorne beugend. Pause. „Dass man die Farbe denken kann, ohne sie zu sehen. Dass sie ein Konzept ist.“
Michel Pastoureau sitzt im lichtdurchfluteten Wohnzimmer seines Appartements im Pariser Vorort Boulogne und wirkt zufrieden. Er hat es wieder einmal geschafft. Wieder einmal hat er untermauert, was er seit mehreren Jahrzehnten in seinen mitreißend charmanten, mit Kindheitserinnerungen, Alltagsbeobachtungen, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, historischen, soziologischen und popkulturellen Fakten gespickten Büchern, seinen Monografien zu „Das Blau“, „Das Rot“, „Das Grün“, „Das Gelb“ zu beweisen versucht: dass die Farbe oder genauer gesagt, die Art und Weise, wie wir sie wahrnehmen, keine Frage des Lichts ist, noch nicht einmal eine des Auges, zumindest nicht nur, sondern in erster Linie eine der Kultur. Diese Überzeugung verbindet ihn übrigens mit seinem Großcousin, dem berühmten Ethnologen Claude Lévi-Strauss. Ansonsten, sagt er, hätten sie sich nur selten gesehen, Strauss habe Familienfeste stets gemieden – doch darin waren sie sich immer einig: „Alles ist kulturell.“ In Bezug auf die Farbe bedeutet das, dass man, je nachdem, woher man kommt, an was man glaubt, in welchem Jahrhundert man sich bewegt, sie anders denken, sie anders benennen, ihr eine andere Funktion einräumen und sie mit anderen Wertkategorien verbinden wird. Das habe in der Vergangenheit zu den ulkigsten Fragestellungen geführt, erklärt der 77-Jährige schmunzelnd und erzählt davon, wie die Wissenschaftler des späten 19. Jahrhunderts sich die Köpfe darüber zerbrachen, ob die alten Griechen die Farbe Blau sehen konnten oder für diesen Ton womöglich blind waren. Wie kam man darauf, ausgerechnet in Bezug auf die Griechen, die wir intuitiv mit den Farben Blau und Weiß verbinden? „Ganz einfach: Weil das Blau im antiken Griechenland so gut wie nie benannt wurde. Es gab noch nicht einmal ein fest definiertes Wort dafür. Man nutzte zwei Wörter, glaukós und kyáneos, allerdings konnten sie ebenso gut Blau wie Grün wie Braun, Violett oder Gelb heißen, je nachdem, in welchem Kontext man sie verwendete. Da etwas, das man nicht benennt, erst einmal nicht existiert, überlegte man, ob das Auge der Griechen vielleicht nicht in der Lage gewesen war, diese Farbe zu erkennen.“
Der wahre Grund für dieses Auslassen wird natürlich ein anderer gewesen sein. Ein kultureller. Das Blau spielte in der antiken Welt, bei den Griechen wie auch bei den Römern, schlicht keine große Rolle. Es war keine populäre, sondern eine verpönte Farbe, die der Barbaren, der Germanen und der Kelten. Sich im antiken Rom in Blau zu kleiden war eine unerhörte Extravaganz, selbst blaue Augen waren ein Stigma. Bei Frauen galten sie als Zeichen eines sündigen Lebensstils, bei Männern als unmännlich. „Schon faszinierend“, meint Pastoureau, der selbst in einem dunkelblauen Pullover vor mir sitzt. Schließlich sei es heute genau andersherum: Seit über hundert Jahren, seitdem man Umfragen zum Thema mache, würden mindestens siebzig Prozent der Befragten Blau als ihre Lieblingsfarbe angeben, sagt er. Durchgehend. Ganz gleich ob Krieg herrscht oder Frieden, egal ob man einen Mann fragt oder eine Frau: „Es ist eine Konstante.“ Danach komme in der Beliebtheitsskala das Grün, weit dahinter Rot, Schwarz, Gelb. Hätte man die Leute im Mittelalter gefragt, hätten die meisten wahrscheinlich „Rot“ geantwortet, vielleicht auch „Grün“, das waren die zwei wichtigsten Farben dieser angeblich so dunklen, in Wahrheit aber sehr farbigen Epoche. Im Laufe der Zeit jedoch veränderte sich das Kräfteverhältnis. Wo einst, also seit der Antike oder im Grunde sogar schon seit der Höhlenmalerei, das Rot die dominante Farbe war, die allererste, die der Mensch beherrschte, die Farbe der Macht und der Männlichkeit, der Schönheit, des Lebens, des Festes, trat etwa im 17. Jahrhundert das Blau seinen Siegeszug an, dessen Ende dem Historiker zufolge nicht absehbar ist.
In der Geschichte der Farben ist dieser Umbruch einzigartig, spektakulär. Keine Farbe hat ihr Image so radikal geändert wie das Blau. Hat er seine Buchreihe deshalb mit diesem Ton begonnen, wo es doch noch nicht einmal sein Lieblingston ist? Er lächelt. Na ja, es stehe zwar „Das Blau“ auf dem Cover, doch in Wahrheit komme eine Farbe ja niemals allein. Denn wenn er über das Blau schreibt, dann schreibt er ebenso über das entthronte Rot wie über das Grün (das noch vor dem Blau als Farbe des Wassers galt), über das Schwarz, das dem Blau in vielerlei Hinsicht – besonders symbolisch – nahesteht, und so weiter. Aber es stimme schon, sagt er: Die Geschichte des Blau, seine Entwicklung von einer namenlosen und nie erwähnten zu einer dominanten und von allen geliebten Farbe sage viel über die gesellschaftlichen Veränderungen aus.