Salzburg

Agnes im Papierland

Nach Stationen in Düsseldorf und Berlin hat die Künstlerin Agnes Scherer in Salzburg den perfekten Nährboden für ihre fantasievollen Performances gefunden

Von Catherine Peter
04.07.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 228

Die Wundermuscheln aus China, ob ich die kennen würde, fragt mich Agnes Scherer. Wir sitzen an einem heiteren Morgen im Café Bazar, nur wenige Minuten entfernt vom Mozarteum, wo sie seit 2021 eine Professur für Malerei innehat. Nein, von denen habe ich noch nie etwas gehört, räume ich ein. Es sind, so erklärt es mir die Künstlerin, kleine Überraschungskunstwerke, in denen Miniaturwelten zum Vorschein kommen. Im 19. Jahrhundert waren sie weit verbreitet, noch heute gibt es sie in vereinfachter Version: Man wirft eine Muschel ins Wasser und eine Koralle erscheint.

„Minnie Carnation“ ist eine Collage aus Agnes Scherers Bleistift- und Filzstiftzeichnungen
„Minnie Carnation“ ist eine Collage aus Agnes Scherers Bleistift- und Filzstiftzeichnungen. © Courtesy of the artist and PAGE (NYC), Bel Ami, Los Angeles

Dieser kleine kulturhistorische Exkurs kommt mir während unseres Gesprächs noch ein paarmal in den Sinn. Auch bei Agnes Scherers Kunst geht es häufig darum, überraschende Bilder, Momente, Zusammenhänge zu evozieren. Gerade bereitet sie eine neue Arbeit vor, die ähnlich wie eine Wundermuschel funktionieren wird. Ein riesiges Pop-up-Buch, so groß, dass dessen Seiten nur von Bühnentechnikern aufgeschlagen werden können. Während des zügig angelegten Umblätterns sollen, begleitet von Musik, ganze Welten entstehen und wieder verschwinden. Die Schaubilder, die sich dabei entfalten, haben als roten Faden die Geschichte der Industrialisierung und den globalen Siegeszug des Kapitalismus. Sie sind von der Künstlerin frei interpretierte Szenen, die auf realen Geschehnissen beruhen. So zeigt das Eröffnungsbild einen an der Küste gestrandeten Wal, um den sich ein Volksfest gebildet hat. Auf der nächsten Doppelseite sieht man dann, wie aus dem Wal Öl gewonnen wird und wie mit diesem Öl Lampen betrieben werden, die dann wiederum Nachtschichten in der Fabrik ermöglichen.

„Ich bin einfach keine Atelierkünstlerin“

Zum ersten Mal aufgeblättert wird dieses Pop-up-Buch als Performance unter dem Titel „Woe and Awe“ in London, in den Räumen der Galerie Sadie Coles. Von dort reist es dann im September nach Salzburg, wo es im Kunstverein gezeigt wird.

Aber noch sind es mehrere Wochen bis zur ersten Aufführung. Doch ist schon zu spüren, wie der Druck steigt, die Zeit der Künstlerin im Nacken sitzt. Denn die Idee ist das eine, die vielen Hürden der Ausführung sind das andere. Aktuell beschäftigt sie sich zu Hause mit der Entwicklung von Modellen im kleineren Maßstab. „Ich bin einfach keine Atelierkünstlerin“, sagt Agnes Scherer: „Ich brauche diese Trennung nicht. Mit dem ersten Kaffee morgens möchte ich auch gleich anfangen können.“ Für die Fertigung in Originalgröße hat sie eine Werkstatt in Salzburg gemietet.

Papier denkt die Künstlerin in neuen Dimensionen. „Trousseau dérangé“ hat sie ihrem eigenen Bett nachgebildet
Papier denkt die Künstlerin in neuen Dimensionen. „Trousseau dérangé“ hat sie ihrem eigenen Bett nachgebildet. © Courtesy of the artist and PAGE (NYC)

Das fertige „Buch“ wird aus Papier und Karton bestehen, Materialien, auf die die Künstlerin oft zurückgreift. Erst Anfang des Jahres hat sie in der Galerie Chert Lüdde in Berlin ein aus Papier bestehendes und mit Filzstift bemaltes Bett gezeigt. „Trousseau dérangé“ ist der Titel dieser Arbeit, zu der sie ihr eigenes, im Internet erworbenen Himmelbett inspiriert hat, das mit sonderbaren, volkstümlichen Malereien verziert ist. In einem weiteren Raum war eine Installation zu sehen, die ein mittelalterliches Ritterturnier mit menschengroßen Figuren aus bemaltem Pappmaschee nachstellte. Warum wählt sie solch fragiles, nicht für die Ewigkeit bestimmtes Material? Darauf werde sie in letzter Zeit öfter angesprochen, erzählt sie. Sie würde Papier besonders lieben, sei aber keine Papierfetischistin. In Wirklichkeit sei ihr das Material als Bedeutungsträger nicht so wichtig. Die Entscheidungen darüber treffe sie meist spontan, auch aus zeitlichen, praktischen Gründen.

Geschlechterrollen und die Ausbeutung der Natur kritisiert Scherer in überraschenden Formen. Das Turnier wurde zuerst im Heidelberger Kunstverein aufgeführt.
Geschlechterrollen und die Ausbeutung der Natur kritisiert Scherer in überraschenden Formen. Das Turnier wurde zuerst im Heidelberger Kunstverein aufgeführt. © Kunst Halle Sankt Gallen / ChertLüdde, Berlin and Sans Titre, Paris and Agnes Scherer, Salzburg

Viel wichtiger seien ihr die transportierten Inhalte. Indem sie ein Szenario wie das Ritterturnier aufgreift und dabei neu interpretiert, öffnet sie einen unerwarteten, weil ursprünglich abgeschlossenen und in der Vergangenheit liegenden Raum, um über Rollenbilder und Machtverhältnisse zu reflektieren. Dabei erlaubt sie sich selbstverständlich anachronistische Freiheiten. Denn ob das Burgfräulein, abgelenkt von ihrem Smartphone, überhaupt etwas von den heroischen Zweikämpfen zu ihren Füßen mitbekommt, darf bezweifelt werden.

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Aufwendig ihre Ideen in Szene zu setzen, davor hat Agnes Scherer keine Scheu. Schon während ihres Studiums an der Kunstakademie Düsseldorf merkte sie, dass es für sie mehr gab als nur Leinwand, Pinsel und Farben. „Was ich mit Düsseldorf assoziiere, ist Freiraum und eine Bühne. Das Studieren in der Klasse von Peter Doig war offen und eigenständig. Er war dezidiert unautoritär, was für mich das Richtige war. Wenn ich heute drüber nachdenke, ohne dass es damals je wirklich zur Sprache gekommen ist: Er wurde ja zum Teil besprochen als magischer Realist, und das ist vielleicht schon als Tendenz in meiner Arbeit auch zu finden.“ In Düsseldorf entwickelte sie am Ende ihrer Studienzeit die Operette „Cupid and the Animals“. Das Stück, in dem fünf verschiedene Tiere nacheinander von Amorpfeilen verwundet werden, thematisiert die Leiden des Verliebtseins. Die Aufführung 2017 im Museum Ludwig in Köln war ein solcher Erfolg, dass Agnes Scherer und ihr Team in den folgenden Monaten sogar zu Gastspielen nach London und New York eingeladen wurden.

„Inaktiver Zeichenarm mit Motiven, die ohne dessen Zutun entstanden“
„Inaktiver Zeichenarm mit Motiven, die ohne dessen Zutun entstanden“. © Philipp Hänger / Cabaret Voltaire

Ähnliches erlebte sie mit der didaktischen Operette „The Teacher“, die erstmals 2019 im Projektraum Kinderhook & Caracas in Berlin gezeigt wurde, im Jahr darauf im Cabaret Voltaire in Zürich und zuletzt beim Festival Art City Bologna. In der etwa zwölfminütigen Performance folgt man dem Unterricht eines manischen Professors. Wie eine Krake steuert der Performer Soya Arakawa die Puppe des Professors: Er liegt auf dem Rücken, seine Hände und Füße bewegen über Schnüre die Figur. Der zum Teil schreiend vorgetragene Text, unterlegt mit schnellem Schlagwerk, ist eine Mischung aus Aphorismen und Weisheiten. Im Hintergrund läuft im zackigen Rhythmus eine gemalte Powerpoint-Präsentation. Auch wer nur Videoausschnitte zu sehen bekommt, spürt die starke Spannung, die von der Aufführung ausgeht. Mittlerweile dürfen keine Kinder mehr im Raum sein, da sie bei den ersten Aufführungen gleich zu weinen anfingen. „Für mich ist ganz klar warum. Ich bin zwar kein Kind mehr, aber auch in mir löst das Stück in einem gewissen Grad Panik aus“, sagt sie. Ob sie diese Furcht denn bewusst erzeugen wolle, möchte ich wissen. „Ich interessiere mich auf jeden Fall für gewisse Überforderungen. Bei ‘The Teacher‘ gibt es eine Bilderflut und eine Fülle an Inhalten. Es ist absichtlich mehr, als man überhaupt in der Zeit aufnehmen kann.“

Die Karfreitagsprozessionen haben die Künstlerin geprägt

Alljährlich findet in Lohr am Main, der Stadt in Unterfranken, in der Agnes Scherer aufgewachsen ist, eine der ältesten Karfreitagsprozessionen Deutschlands statt. Begleitet von Trommelschlag und Musik werden von schwarzbekleideten Laiendarstellern lebensgroße Holzfiguren durch die Stadt getragen, die die vierzehn Stationen der Passion Jesu illustrieren. Das Erlebnis dieser Prozession nennt die Künstlerin eine ihrer eindrücklichsten Kindheitserinnerungen und als überhaupt allererste Begegnung mit Kunst. Noch heute versucht sie, jedes Jahr dabei zu sein. Mittlerweile ist ihr bewusst, wie sehr diese Form der Darstellung, vor der sie sich zum Teil auch gefürchtet hat, für sie prägend war.

Zeichnungen mit Filzstift auf Papier
Zeichnungen mit Filzstift auf Papier. © Foto: Catherine Peter

Auch der Umzug von Berlin nach Salzburg hatte als Hintergrund den Wunsch, wieder näher an diesem katholisch geprägten Kulturraum zu sein. „Ich wollte eine Alpen-Professur. Auch wenn Berlin gut zu mir war, habe ich mich nach dem totalen Kontrastprogramm gesehnt. Und ich hatte eine Ahnung, dass ich hier bestimmte Formen von Inszenierungen vorfinden würde, die interessant für meine künstlerische Entwicklung sein könnten.“ Wenige Wochen nach ihrem Umzug nach Salzburg erlebte sie abends am Domplatz zufällig die Hubertusnacht-Prozession. „Zuerst waren Bläser mit Jagdhörnern zu hören, die sich im Wechsel Passagen zuspielten. Es war schon so üppig, dass ich dachte, da kommt nichts mehr. Bis ich merkte, dass sich da eine noch vollere Musik näherte. Mit dem Schein von Fackeln kam auch ein Pferdewagen, auf dem drapiert mit Tannenzweigen ein toter Hirsch lag.“

Puppenspiele und Marionetten sind wiederkehrende Elemente in Scherers Werk: „The Grand Scaffold“ aus ihrem überdimensionalen Pop-up-Buch
Puppenspiele und Marionetten sind wiederkehrende Elemente in Scherers Werk: „The Grand Scaffold“ aus ihrem überdimensionalen Pop-up-Buch. © Bild: Andrew Phelps / Agnes Scherer

In diesem Moment fühlte Agnes Scherer, dass sie hier am richtigen Ort sei. „Für mich ist Salzburg eine Art Plazenta“, sagt sie über die Stadt, die mit ihrer Aura, ihrer kleinen, aber regen Kunstszene und mit ihrer Dichte an traditionellem Handwerk die Künstlerin mit allem nährt, was sie gerade braucht.

Die Künstlerin an ihrem volkstümlichen Himmelbett, ein Internetfund, der ihr Werk inspiriert
Die Künstlerin an ihrem volkstümlichen Himmelbett, ein Internetfund, der ihr Werk inspiriert. © Foto: Catherine Peter

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