Die Sammlung von Reinhard Ernst überwältigt mit abstrakter Kunst auf allerhöchstem Niveau. Sie schlägt dabei einen Bogen von Amerika über Europa bis nach Ostasien
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19.06.2024
Reinhard Ernst liebt Farben, er liebt abstrakte Kunst und auch das offene Wort. Auf die Frage, warum er sich entschieden habe, ausgerechnet abstrakte Kunst zu sammeln, was er daran mehr schätze als etwa an figurativer Kunst, kurz, woher die Liebe zu ihr kommt, sagt der Unternehmer: „Ehrlich gesagt, bis vor zwanzig, vielleicht sogar noch bis vor zehn Jahren hätte ich gesagt: Ich weiß es nicht.“ Reinhard Ernst macht eine kurze Pause, denkt nach, er steht im obersten Stock des Museums, das er für seine Sammlung gebaut hat, direkt vor der Skulptur „The Chase – Second Day“ von Frank Stella. „Heute sage ich: Ich liebe an der abstrakten Kunst, dass sie so unmittelbar wirkt – die Farben, die Gesten, die Experimente mit den unterschiedlichsten Materialien. Es gibt diesen Satz von Frank Stella, der ja leider gerade verstorben ist und den wir hier mit einem eigenen Raum ehren: What you see is what you see. Jeder sieht in einem Werk der Abstraktion, was er darin sieht. Das ist ganz individuell und auch demokratisch. Ich finde das großartig.“
In den späten 1970er Jahren begann sich Reinhard Ernst für Kunst zu interessieren, ging auf seinen vielen beruflichen Reisen immer häufiger in Museen und Galerien. Seine ersten beiden Bilder hat er sich noch aus dem Grund angeschafft, aus dem die meisten Menschen ihr erstes Kunstwerk erwerben. Weil ihm die Bilder gefielen und er und seine Frau Sonja gerade etwas suchten, dass sich an den Wänden ihres Hauses in Eppstein im Taunus gut machte. In Köln erstand Ernst zwei Papierarbeiten, eine des deutschen Informel-Künstlers Karl-Otto Götz und eine von Hubert Berke, einem Mitglied der Künstlergruppe ZEN 49. „20 und 50 D-Mark habe ich damals dafür bezahlt. So hat es angefangen.“
Heute umfasst seine Sammlung mehr als 960 Werke abstrakter Kunst. Es ist eine Kollektion, die in ihrer Tiefe und Breite einzigartig ist – nicht nur in Deutschland. Zur Sammlung gehören Arbeiten auf Papier, auf Leinwand oder Glas, Skulpturen aus Stahl, Bronze oder, wie Stellas „The Chase – Second Day“, aus Magnesiumblech und Aluminium. Der zeitliche Horizont erstreckt sich von 1945 bis in die Gegenwart, mit einem Schwerpunkt in den 1950er und 1960er Jahren. Vertreten sind vor allem Werke des europäischen Informel und des amerikanischen Abstrakten Expressionismus sowie Bilder der japanischen Nachkriegsavantgarde.
Im Fokus des Sammlers standen dabei oft Arbeiten von Künstlergruppen. Die deutsche Gruppe ZEN 49 um Willi Baumeister und Fritz Winter ist in der Sammlung ebenso vertreten wie die in Paris entstandene internationale Künstlervereinigung CoBrA, die italienische Gruppo degli Otto oder die japanische Gruppe Gutai, das fernöstliche Pendant zu den deutschen Zero-Künstlern. Arbeiten der Gutai-Gruppe etwa entdeckte und kaufte Reinhard Ernst bereits in den 1980er Jahren während seiner Japan-Aufenthalte, lange bevor die Künstler der Gruppe im eigenen Land wiederentdeckt wurden. Die geografischen Sammlungsschwerpunkte – Frankreich und Deutschland, USA und Japan – sind biografisch begründet: Es sind die Länder, in denen der Unternehmer am meisten beruflich zu tun hatte und zu denen er dadurch im Laufe der Zeit eine besondere Beziehung aufbaute.
Das größte Werk der Sammlung stammt von Toshimitsu Imaï und trägt den Titel „Formation Stream“. Imaï ist berühmt für seine Farbexperimente und gilt als einer der wichtigsten Vermittler zwischen der europäischen und japanischen Avantgarde. 1952 zog er von Tokio nach Paris, später pendelte er zwischen Frankreich und Japan. Sein „Formation Stream“ in satten Rot- und Schwarztönen hat eine Breite von mehr als zwanzig Metern und besteht aus 18 Teilen. Es ist eines von rund 60 Werken, die das Museum Reinhard Ernst in seiner Eröffnungsausstellung unter dem programmatischen Titel „Farbe ist alles!“ präsentiert.
Denn Farben, vor allem der virtuose Umgang mit ihnen, sind es, die den Sammler Reinhard Ernst am meisten faszinieren. Von der Eröffnung seines Museums mre im Juni wünscht er sich, dass „jedes einzelne Bild einen Wow-Effekt auslöst und kein einziges auch nur den Eindruck aufkommen lässt, nicht erstklassig zu sein.“ Erstklassig ist auch die Schirmherrschaft für die Ausstellung: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sie übernommen.
Es sei die Aufgabe, „gemeinsam Kunst auf höchstem Niveau anschaulich zu präsentieren“, umreißt Oliver Kornhoff, der Direktor des mre, das Konzept. Die erste Sammlungspräsentation, mit der das Museum eröffnet wird, solle daher nichts Trennendes zeigen, sondern integrierend wirken. Sie sei deshalb auch nicht chronologisch oder geografisch bzw. nach Künstlergruppen gehängt, sondern offen und thematisch angelegt, erläutert Oliver Kornhoff. Jedem Raum wird ein Thema zugeordnet, ein „Denkanstoß“, wie Kornhoff das nennt: „So ziehen wir Linien, zeigen Verbindungen auf, Einflüsse, aber auch Unterschiede. Wir zeigen, was für bahnbrechende Werke die Umbrüche in der Kunst seit 1945 hervorbrachten und wie sich die Abstraktion über alle geografischen Grenzen hinweg durchsetzte.“
„Malerei hoch drei“ steht etwa an einem der Räume, der wegen seiner sakralen Anmutung intern auch „Kathedrale“ genannt wird. Geschossübergreifend erreicht er eine Höhe von vierzehn Metern und ist mit einem kleinen Balkon in der zweiten Etage versehen. In ihm geht es um das Verhältnis von Bild und Raum, zu sehen sind u.a. Gemälde von Helen Frankenthaler, Morris Louis und Sam Francis. Im Raum „From Zero to Action“ begegnen sich Werke der Zero- und der Gutai-Künstler:innen, in „The Beat Goes On“ treffen Legenden der Abstraktion wie die US-Amerikanerin Lee Krasner auf Gegenwartskünstler wie Tal R oder Thomas Scheibitz.
Das Motto „Gegen den Strich“, das für den größten Raum mit Imaïs wandumspannenden 20-Meter-Bild gewählt wurde, soll veranschaulichen, dass die Nachkriegsavantgarde kein reiner Exportartikel des Westens war, sondern ebenso wichtige Impulse aus dem ostasiatischen Raum aufnahm. Den Austausch muss man sich damals als rege in beide Richtungen vorstellen. Neben dem Imaï-Werk etwa hängt ein Bild des französischen Malers Georges Mathieu, einem der Hauptvertreter des Tachismus, mit dem Imaï zusammen Performances organisierte. Und natürlich, der Titel des Raumes sagt es, wird der Strich als solches thematisiert – in einem Werk etwa der japanischen Künstlerin Tōkō Shinoda, bei deren 100. Geburtstag Reinhard Ernst 2014 zu Gast war. Shinoda hatte als Kalligrafin begonnen, lernte in den USA Jackson Pollock und Robert Motherwell kennen und begann dann, abstrakt und zugleich sehr kontrolliert zu malen.
Noch wichtiger als Shinoda ist für den Sammler jedoch die 2011 verstorbene amerikanische Malerin Helen Frankenthaler, die viele Jahre mit Robert Motherwell verheiratet war. Reinhard Ernst bewundert ihr Spiel mit der Farbe und ihre atmosphärischen Referenzen an Natur und Landschaft. „Es ist erstaunlich, welche Farben sie nutzte, wie sie sie nutzte, welche Farbtöne sie überhaupt erst erschaffen hat.“ Mehr als 45 Gemälde besitzt er von Helen Frankenthaler und nennt sie „meine Lieblingskünstlerin“.
Die Sammlung Ernst enthält viele Werke von enormen Dimensionen, manche wurden eigens für das neue Museum geschaffen. Beispielsweise die Bronzeskulptur „Pair“ von Tony Cragg, ein Paar biomorph geformter Stelen, das seinen Platz im ersten Stockwerk gefunden hat. Über sechs Meter schrauben sie sich in die Höhe und sind insgesamt drei Tonnen schwer. Dennoch wirken sie nahezu filigran und scheinen organisch aus den Eichendielen zu wachsen. Ein Eindruck, der nur möglich wurde, weil das Werk bereits während des Rohbaus im Gebäude verankert wurde.
Ebenfalls eine Auftragsarbeit für das mre ist die 64 Quadratmeter große Wand im Erdgeschoss, die das Foyer vom Raum für digitale Kunstvermittlung abgrenzt. Es ist die erste Glasarbeit der deutschen Künstlerin Katharina Grosse, die für ihre großflächigen Arbeiten an Wänden oder auf Böden und Fassaden international bekannt ist. Ihre Arbeit mit dem Titel „Ein Glas Wasser, bitte“ entfacht ein regelrechtes Farbgewitter, das im Sonnenlicht das Foyer in blaue und rote Töne taucht. Gefertigt wurde das hochkomplexe Werk aus verschiedenen Glassorten in der Glasmanufaktur Derix in Traunstein.
„Was ich mir von diesem Haus erhoffe“, sagt Reinhard Ernst zum Abschied, „ist, dass es der abstrakten Kunst ein gutes Entree gibt. Ich wünsche mir viele Menschen, von Kindern bis zu Menschen in meinem Alter, die sich auf die Bilder, auf die Farben einlassen und Lust auf abstrakte Kunst bekommen.“
Das Museum Reinhard Ernst eröffnet am 23. Juni. Mehr Infos finden Sie hier.