Was mich berührt

Sanfter Giotto

Bei der Arbeit an seinem neuen Buch fuhr unser Autor Daniel Schreiber nach Padua, um sich Giottos berühmte Fresken in der Scrovegni-Kapelle anzuschauen. Dabei machte er eine außergewöhnliche Erfahrung. Folge 13: der Trost der Schönheit

Von Daniel Schreiber
24.11.2023
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 221

Padua ist keine besonders schöne Stadt, vor allem im Winter und wenn man gerade aus Venedig kommt. Steigt man am Bahnhof aus, trifft man auf eine etwas lieblose, leicht heruntergekommene Retail-Architektur, wie man sie in kleineren und größeren Städten überall in Europa findet. Das Grau alternden Betons, ein paar kahle Bäume. Vom Meer nicht einmal eine Ahnung.

Eine Freundin hatte mir empfohlen, einen Ausflug in die Stadt zu machen und Giottos Fresken in der Scrovegni-Kapelle anzuschauen. Ich bin mir nicht sicher, warum ich ihrem Ratschlag folge. Eigentlich bin ich an Giotto di Bondone nicht besonders interessiert. Ich habe seine Ognissanti-Madonna in den Uffizien und seine „Grablegung Mariae“ in der Berliner Gemäldegalerie gesehen und weiß, dass er in der Kunstgeschichte als einer der Begründer der Renaissance gilt, obwohl er ein gutes Jahrhundert vor dieser Epoche, von 1267 bis 1337, lebte. Die Kapelle hatte dennoch nie auf meiner Liste der Kunstwerke gestanden, die ich unbedingt sehen wollte. Giotto war mir zu sehr in der dunklen Phase des Mittelalters verankert, um mich wirklich für ihn zu begeistern. Seine Werke waren mir immer zu golden und byzantinisch, zu gotisch und fromm vorgekommen, um sie zu mögen.

Giotto Padua Daniel Schreiber
Giottos Darstellung von „Joachim und Anna an der Goldenen Pforte“ gilt als der erste Kuss der Kunstgeschichte. © Scala, Florence

Doch ich hatte mir schon in meiner Jugend angewöhnt, Kirchen zu besuchen, wenn ich reiste, und nun bin ich hier. Es geschah fast automatisch. Vielleicht fühle ich mich auch einfach nur verloren. Mein Vater ist im Jahr zuvor gestorben, und die Trauer um ihn begleitet mich fast jeden Tag. Zugleich habe ich das Gefühl, so viel mehr verloren zu haben als ihn, habe das Gefühl, dass sich sein Tod in eine Vielzahl von kleinen und großen Tragödien einreiht, dass sich mein privater Verlust mit den vielen kollektiven Verlusten vermengt, die wir in den vergangenen Jahren erfahren haben. Von ihnen potenziert wird. Die Nachrichtenlage von Krieg, vom Siegeszug antidemokratischer Ideen, von Pandemie und Klimawandel ist die dramatischste, die ich zu meinen Lebzeiten erfahren habe.

Vom Bahnhof aus dauert es eine Viertelstunde, bis man am Ziel ist. Die Scrovegni-Kapelle ist heute Teil des Stadtmuseums von Padua. Man muss den Besuch lange im Voraus für ein bestimmtes Zeitfenster buchen. Etwas außer Atem komme ich eine halbe Stunde zu spät und überlege mir, was Zugverspätung auf Italienisch heißt. Doch die Dame am Einlass winkt mich einfach freundlich durch. Der Weg führt durch den historischen Innenhof des Museums zunächst zum Garten eines einstigen römischen Amphitheaters. Der paduanische Bankier Enrico Scrovegni, Namenspatron der Kapelle, erwarb das Grundstück der Arena im Jahr 1300. Zu dem antiken Ort, der inzwischen vor allem als Ziel der Prozession zum Fest von Mariä Verkündigung am 25. März, neun Monate vor dem Weihnachtsfest, bekannt war, gehörte eine etwa zweihundert Jahre alte Kapelle, die Scrovegni in eine öffentliche Kirche umbauen wollte.

Es war kein Zufall, dass er die Kapelle im Jahr 1300 kaufte, dem ersten Jubeljahr der Kirchengeschichte. Papst Bonifatius VIII. hatte für dieses Jahr die Vergebung aller begangenen Sünden ausgerufen, wenn die Gläubigen ihre Taten aufrichtig bereuten, beichteten und zu den Basiliken Sankt Peter und Sankt Paulus in Rom pilgerten. Sowohl Giotto als auch Scrovegni gehörten zu den etwa zweihunderttausend Menschen, die in jenem Jahr nach Rom reisten, um Ablass zu erlangen. Der Historiker Giuliano Pisani beschreibt die päpstliche Ausrufung dieses Jahrs als eine Reaktion auf die heute unvorstellbare Gewalt jener Zeit und ihre tiefgreifende Ungerechtigkeit. Im ganzen Christentum sei ein Verlangen nach Versöhnung und Geistigkeit spürbar geworden.

Giotto Padua Scrovegni Kapelle
Von 1304 bis 1306 malte Giotto die Scrovegni-Kapelle in Padua aus. Hier seine Szene des Jüngsten Gerichts. © Thomas Photography/alamy Stock Foto/mauritius images

Es ist anzunehmen, dass Scrovegni die nach ihm benannte Kapelle, in der er bis heute begraben liegt, auch im Rahmen dieser Buße umbauen ließ. Sein Vater, so bekannt, dass Dante ihm in seiner „Göttlichen Komödie“ einen Platz im siebten Kreis der Hölle zuwies, war mit Wucherzinsen reich geworden. Der Sohn hatte dieses Geschäft weitergeführt, sich aber nun entschlossen, der legalen Praxis, die dennoch als große Sünde galt, zu entsagen und ein respektables Familienleben zu führen. Um diesen Wunsch zu unterstreichen, beauftragte er auch Giotto und seine Werkstatt, um aus dem Inneren der Kirche ein ganz besonderes Meisterwerk zu machen. Vermutlich diente der Künstler auch als Architekt. Zum Verkündigungsfest 1305 wurde die Kapelle eingeweiht.

Als ich schließlich vor dem Gebäude stehe, erfasst mich ein irrationales Gefühl der Enttäuschung. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, doch die Kapelle selbst ist eher unscheinbar. Der einschiffige, spitzgiebelige Backsteinbau hat nichts mit den späteren, Ehrfurcht gebietenden römisch-katholischen Kirchen zu tun, die ich kenne. Es scheint kaum vorstellbar, dass sich hinter den schlichten Mauern eines der größten Kunstwerke der Menschheit verbirgt. Ich warte einige Minuten, bis ich zusammen mit einer Handvoll anderer Besuchender durch Glastüren in einen modernen Vorraum treten darf, wo wir uns ein Video über Giotto und die Entstehung der kleinen Kirche anschauen. Erst danach werden wir durch den Seiteneingang ins Innere der Scrovegni-Kapelle geführt. Die Gruppe bewegt sich nur langsam voran.

Doch unwillkürlich halte ich den Atem an, als ich den kleinen Kirchenraum betrete. Das Erste, was man sieht, ist dieses Blau, ein unbeschreibliches, einzigartiges Blau, das an einigen Stellen abblättert und verblasst, an anderen eine einnehmende Intensität entfaltet. Das gesamte Tonnengewölbe ist mit diesem Blau versehen. Ein Himmel aus Azurit-Pigmenten, mit gleichförmigen goldenen Sternen und zehn gleichmäßig verteilten, kreisrunden Porträts, unter anderem von Maria und Jesus. Es ist das Blau, das man vom Blick aus dem Langstreckenflugzeug kennt, von der Wölbung des Himmels. Das Blau, das früher einmal „himmlisches Blau“ genannt wurde. Auch in den einzelnen Vignetten des Freskenzyklus, der die Wände der Kapelle bedeckt, kehrt es wieder. Es taucht alles in eine Atmosphäre, wie man sie von der blauen Stunde am Ende des Tages kennt, kurz bevor die Sonne untergeht. Wenn die ganze Welt noch einmal intensiver, farbiger wirkt, noch einmal auflebt, bevor sie in der Nacht versinkt. Es vermittelt einem das seltsame Gefühl, in eine andere Wirklichkeit getreten zu sein. Eine schönere, wundersamere Wirklichkeit.

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