Interview mit Kiki Smith

Dickicht der Großstadt

Für ein neues Terminal der Grand Central Station tief unter den New Yorker Wolkenkratzern hat Kiki Smith erstmals Mosaike gestaltet. Ein Gespräch über Rehe und Truthähne, Pendlerströme und ihre Liebe zum Stein

Von Lisa Zeitz
10.03.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 210

Mit rund fünfzehn Jahren Bauzeit und Kosten von elf Milliarden Dollar zählt die unterirdische Station Grand Central Madison mitten in Manhattan zu den ambitioniertesten städtebaulichen Projekten des 21. Jahrhunderts. Am 25. Januar wurde sie eröffnet und bietet glücklicherweise auch Kunst am Bau: Die New Yorker Künstlerin Kiki Smith, 1954 in Nürnberg geboren, hat fünf Mosaike beigesteuert, die nach ihren Entwürfen von der Mayer’schen Hofkunstanstalt in München umgesetzt wurden. Das Treffen mit der sympathischen Künstlerin, die mit grauer Mähne, blitzenden Augen und punktförmigen blaugrünen Tätowierungen wie eine Erscheinung aus einem Märchen wirkt, findet in ihrem vollgestopften Büro in der ersten Etage eines Townhouses im New Yorker East Village statt. In diesem alten Gebäude mit feuerroter Haustür lebt Kiki Smith seit mehr als einem Vierteljahrhundert – wenn sie nicht in Upstate New York durch die Natur streift.

Sie haben jetzt zum ersten Mal mit Mosaiken gearbeitet. Wie kam es zu diesem Projekt?

Ich habe durch die Mayer’sche Hofkunstanstalt in München schon seit rund dreißig Jahren mit Glasmalerei gearbeitet, aber noch nie mit Mosaiken. Als Michael Mayer dann bei der MTA, der Metropolitan Transportation Authority, meinen Namen in den Ring warf, war ich unsicher … Doch die Entwürfe wurden angenommen. Anschließend waren dreißig Leute mehr als zwei Jahre mit der Ausführung beschäftigt. Was für eine Chance! Wann im Leben hat ein Künstler schon einmal die Gelegenheit zu so einer Zusammenarbeit? Was Kunst im öffentlichen Raum angeht, sind die Amerikaner mit ihrer puritanischen Vergangenheit übrigens generell sehr misstrauisch.

Was meinen Sie damit?

Kiki Smith
Die Künstlerin, fotografiert von Robert Fischer. © Robert Fischer

Am Anfang stand die Kolonie der Puritaner, das war der Grund für das amerikanische Misstrauen gegen alles, was wie katholischer Götzendienst aussieht, und gegen Kunst überhaupt. Man findet in den Vereinigten Staaten mit Ausnahme der Dreißigerjahre wenig Ausschmückung der Städte. Dabei macht es einen echten Unterschied, wenn der Staat oder Lokalregierungen ein Budget für Kunst haben und diese Kultur pflegen, wie hier zehn Stockwerke tief im Untergrund. Es ist ein komplett anderes Gefühl, ob man sich in einem Tunnel nur mit Ratten bewegt, oder ob ein Ort wiedererkennbar ist. Wenn alles gleich aussieht, können sich die Leute nicht damit identifizieren …

… und man verläuft sich sehr leicht, wenn es keine Anhaltspunkte gibt.

Aber jetzt entwickelt sich in New York sogar ein regelrechter Tourismus in der Subway, alle wollen die Kunst sehen! Ich wollte, dass man sagen kann: „Wir treffen uns beim Reh.“

Stehen die Motive, die Sie für die Mosaike ausgewählt haben, direkt mit den Bahnrouten in Verbindung?

Die wichtigste Funktion dieses neuen Bahnhofs ist es, die von Osten kommende Long Island Rail Road mit der Grand Central Station in Manhattan zu verbinden. Früher mussten die Reisenden immer zur Penn Station und dann umsteigen, was jeweils ungefähr eine halbe Stunde extra gedauert hat. Die neue Station spart vielen Tausend Menschen täglich enorm viel Zeit. Ich wollte hier Bilder von der Natur machen. Manches hat direkt mit Long Island zu tun. Ich selbst lebe meist in Upstate New York …

Kiki Smith The Presence Mosaik
Die regenbogenfarbenen Lichtflecken fielen zufällig auf den Entwurf von „The Presence“ (o.) und gefielen Kiki Smith so gut, dass sie sie im ausgeführten Mosaik verewigte. © Anthony Verde/Kiki Smith

… also von Manhattan aus in Richtung Norden.

Dort sieht das Wasser anders aus, mit Seen und Flüssen. In Long Island dagegen gibt es den Ozean, den Sund und Marschland. Ich wollte auf jeden Fall eine Verbindung zu dem Ort schaffen, von dem die Leute kommen, und die Flora und Fauna unserer Umgebung abbilden.

Dazu zählen die Truthähne?

Wussten Sie, dass Benjamin Franklin als Wappentier der USA nicht den Weißkopfseeadler, sondern den Truthahn wollte? Truthähne haben sich schnell an städtische Gebiete gewöhnt, und an manchen Orten treiben sie die Leute in den Wahnsinn, weil es so viele von ihnen gibt. Ich mag sie sehr. Truthähne sind so schön, prähistorisch und seltsam. Wo ich auf dem Land lebe, gibt es auch Geier. Sie sind nicht beliebt, aber sie sind Zeichen einer gesunden Umgebung, denn es bedeutet, dass es genug Leben und Tod gibt, um den Zyklus am Laufen zu halten.

Geier kommen aber in keinem der Mosaike vor?

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