Für ein neues Terminal der Grand Central Station tief unter den New Yorker Wolkenkratzern hat Kiki Smith erstmals Mosaike gestaltet. Ein Gespräch über Rehe und Truthähne, Pendlerströme und ihre Liebe zum Stein
Von
10.03.2023
/
Erschienen in
WELTKUNST Nr. 210
Mit rund fünfzehn Jahren Bauzeit und Kosten von elf Milliarden Dollar zählt die unterirdische Station Grand Central Madison mitten in Manhattan zu den ambitioniertesten städtebaulichen Projekten des 21. Jahrhunderts. Am 25. Januar wurde sie eröffnet und bietet glücklicherweise auch Kunst am Bau: Die New Yorker Künstlerin Kiki Smith, 1954 in Nürnberg geboren, hat fünf Mosaike beigesteuert, die nach ihren Entwürfen von der Mayer’schen Hofkunstanstalt in München umgesetzt wurden. Das Treffen mit der sympathischen Künstlerin, die mit grauer Mähne, blitzenden Augen und punktförmigen blaugrünen Tätowierungen wie eine Erscheinung aus einem Märchen wirkt, findet in ihrem vollgestopften Büro in der ersten Etage eines Townhouses im New Yorker East Village statt. In diesem alten Gebäude mit feuerroter Haustür lebt Kiki Smith seit mehr als einem Vierteljahrhundert – wenn sie nicht in Upstate New York durch die Natur streift.
Ich habe durch die Mayer’sche Hofkunstanstalt in München schon seit rund dreißig Jahren mit Glasmalerei gearbeitet, aber noch nie mit Mosaiken. Als Michael Mayer dann bei der MTA, der Metropolitan Transportation Authority, meinen Namen in den Ring warf, war ich unsicher … Doch die Entwürfe wurden angenommen. Anschließend waren dreißig Leute mehr als zwei Jahre mit der Ausführung beschäftigt. Was für eine Chance! Wann im Leben hat ein Künstler schon einmal die Gelegenheit zu so einer Zusammenarbeit? Was Kunst im öffentlichen Raum angeht, sind die Amerikaner mit ihrer puritanischen Vergangenheit übrigens generell sehr misstrauisch.
Am Anfang stand die Kolonie der Puritaner, das war der Grund für das amerikanische Misstrauen gegen alles, was wie katholischer Götzendienst aussieht, und gegen Kunst überhaupt. Man findet in den Vereinigten Staaten mit Ausnahme der Dreißigerjahre wenig Ausschmückung der Städte. Dabei macht es einen echten Unterschied, wenn der Staat oder Lokalregierungen ein Budget für Kunst haben und diese Kultur pflegen, wie hier zehn Stockwerke tief im Untergrund. Es ist ein komplett anderes Gefühl, ob man sich in einem Tunnel nur mit Ratten bewegt, oder ob ein Ort wiedererkennbar ist. Wenn alles gleich aussieht, können sich die Leute nicht damit identifizieren …
Aber jetzt entwickelt sich in New York sogar ein regelrechter Tourismus in der Subway, alle wollen die Kunst sehen! Ich wollte, dass man sagen kann: „Wir treffen uns beim Reh.“
Die wichtigste Funktion dieses neuen Bahnhofs ist es, die von Osten kommende Long Island Rail Road mit der Grand Central Station in Manhattan zu verbinden. Früher mussten die Reisenden immer zur Penn Station und dann umsteigen, was jeweils ungefähr eine halbe Stunde extra gedauert hat. Die neue Station spart vielen Tausend Menschen täglich enorm viel Zeit. Ich wollte hier Bilder von der Natur machen. Manches hat direkt mit Long Island zu tun. Ich selbst lebe meist in Upstate New York …
Dort sieht das Wasser anders aus, mit Seen und Flüssen. In Long Island dagegen gibt es den Ozean, den Sund und Marschland. Ich wollte auf jeden Fall eine Verbindung zu dem Ort schaffen, von dem die Leute kommen, und die Flora und Fauna unserer Umgebung abbilden.
Wussten Sie, dass Benjamin Franklin als Wappentier der USA nicht den Weißkopfseeadler, sondern den Truthahn wollte? Truthähne haben sich schnell an städtische Gebiete gewöhnt, und an manchen Orten treiben sie die Leute in den Wahnsinn, weil es so viele von ihnen gibt. Ich mag sie sehr. Truthähne sind so schön, prähistorisch und seltsam. Wo ich auf dem Land lebe, gibt es auch Geier. Sie sind nicht beliebt, aber sie sind Zeichen einer gesunden Umgebung, denn es bedeutet, dass es genug Leben und Tod gibt, um den Zyklus am Laufen zu halten.
(lacht) Ich merke, dass ich mit den Tieren, die ich hier darstelle, Wesen ausgewählt habe, die von vielen Menschen als Plage betrachtet werden. Rehe zum Beispiel: Ihre Zahl ist geradezu explodiert, und sie übertragen Zecken-Borreliose. Aber wenn man sich eine weite Landschaft vorstellt, gehören Rehe einfach dazu. Mein Motiv, ein einzelnes Reh, ist nicht sehr realistisch, denn es sind eigentlich Herdentiere. Irgendwie gefällt mir aber die Idee von diesem einsamen Reh oder auch von der einsamen Möwe, die der Wind an der Küste von Long Island herumweht. Sie haben etwas Melancholisches, wie die Pendlerinnen und Pendler, die auch alleine unterwegs sind und durch das Universum reisen, um von einem Ort zum anderen zu kommen. „Hallo, ihr bekommt Begleitung“, dachte ich. Ist das eine komische Idee?
Im Süden von Long Island gibt es auch Seehunde, aber daran war die MTA weniger interessiert; im Norden, am Sund, ist es wunderschön wild mit Hügeln und Buchten und massenweise Tieren und Vögeln, die umherflattern.
Das Licht spiegelt sich auf der Oberfläche und bildet bewegliche Sterne. Diesen Effekt habe ich früher schon druckgrafisch und in einer Tapisserie dargestellt, und dann wollte ich die Idee in Mosaik umsetzen.
Ja, es ist ungefähr 80 Fuß lang (ca. 25 Meter), in einem Gang, aber nur 12 oder 15 Fuß hoch (ca. 4 Meter). Man geht durch diesen Gang und ist ziemlich nah dran, sodass man nie alles auf einmal sehen kann, immer nur einen Teil.
Ja, auf jeden Fall. Normalerweise mache ich keine großen Sachen. Meine Maße sind eher so (sie hält die Hände in einem halben Meter Abstand), in der Größe eines Brotkastens. Ich bin in Nürnberg geboren, da hatten wir einen altmodischen, emaillierten Brotkasten. Den haben meine Eltern aus Deutschland mit nach Amerika gebracht. Ich habe ihn immer noch. Der Brotkasten ist mein Maßstab.
Das war 1955, ich war ein Jahr alt.
Meine Mutter hatte eine gute Stimme und sang als junge Frau in verschiedenen Broadway-Musicals, zum Beispiel im originalen „Oklahoma!“. Doch eigentlich wollte sie Opernsängerin werden. Da in der Nachkriegszeit in Deutschland Opernsänger fehlten, bekam sie große Rollen in München, Wiesbaden, auch in Salzburg. Ich wurde in einem US-Militärkrankenhaus in Nürnberg geboren, meine Zwillingsschwestern später in den USA.
Nein, berühmt waren beide nicht. Mein Vater hatte erst in den späteren Sechzigerjahren Ausstellungen. Er unterrichtete am Bennington College in Vermont und war oft nicht da. Wir lebten in New Jersey im Haus seiner Großmutter.
Katzen und Vögel. Man muss Tiere doch einfach mögen! Sie sind alle auf ihre Art total faszinierend, einzigartig und interessant.
Ich weiß, dass einiges von den Werken meines Vaters kommt, der Skulpturen aus Oktaedern und Tetraedern machte und sie auf verschiedene Weisen kombinierte, sodass wieder etwas Neues entstand, ein bisschen wie Origami. Man faltet und dreht und auf einmal verwandelt sich das eine in etwas anderes. Bilder haben auch verschiedene Leben. Vor zwanzig Jahren habe ich lauter Werke geschaffen, die sich mit Rotkäppchen und dem Wolf beschäftigen. Zu deren vielen Facetten gehört auch die Natur.
Tilman Riemenschneider! Als ich 1982 zum ersten Mal nach Berlin kam, war ich bei dem Künstler Raimund Kummer zu Gast und ging dauernd in die Museen, auch nach Dahlem. So etwas hatte ich noch nie gesehen: Maria Magdalena, Darstellungen „Wilder Männer“ und „Wilder Frauen“, Herkules mit Löwenfell und Keule. Als ich sie Jahre später auf der Museumsinsel sah, habe ich hysterisch gelacht und geweint vor Wiedersehensfreude. Mittelalterliche Skulpturen stecken so voller Gefühl, das beeindruckt mich schwer. Auch das Bayerische Nationalmuseum in München ist unglaublich.
Natürlich. Aber kennen Sie dort das Museum Reich der Kristalle? Es befindet sich in einer Art Bürogebäude. Nicht viele Leute kennen es, aber es ist wirklich inspirierend. Es stimmt schon, Tiere sind toll. Aber Kristalle erst! Das ist eine echte Konkurrenz. Wenn meine Mutter früher auf Reisen war und mich fragte, was sie mir mitbringen kann, sagte ich immer: „Bring mir einen Stein mit!“ Wenn ich verreise, komme ich bis heute immer mit dem Koffer voller Steine zurück.
Nicht mehr – früher habe ich Währungen gesammelt, besonders umfunktionierte Münzen, die durchbohrt zum Beispiel Teil einer Tracht waren. Das gehört zur kunsthandwerklichen Geschichte der Frauen. Als mobiles Vermögen trug man Münzen als Schmuck am Hals oder als Teil der Kleidung. Mich fasziniert auch, wie zum Beispiel Münzen mit dem Bildnis von Maria Theresia für Jahrhunderte in Nordafrika und Europa in Umlauf waren. Ich hatte einen Münzhändler, zu dem ich immer ging. Sein historisches Wissen war unglaublich. Ich dagegen habe das Lesen erst mit ungefähr vierzig Jahren gelernt. (lacht) Ich habe das Leben durch das Sehen studiert. Was wir Alltagsgegenstände nennen, alle diese Sachen haben eine so reiche, lebendige Geschichte.
Nein. Ich würde lieber in meine eigene Jugend zurückreisen und mein Verhalten und mein schlecht organisiertes Leben korrigieren … Nein, das stimmt nicht. Ich lebe sehr gerne genau jetzt, und ich weiß, was das für ein Privileg in unserer komplett verrückten Welt ist.
Ja! Auch wenn mein Mann sagt, nur Narren seien Optimisten. Ich bin glücklich, weil es einfacher ist, glücklich zu sein. Als Künstlerin bin ich selbstbestimmt. Ich entscheide mich, Kunst zu machen, und so kann ich mein ganzes Leben und meine eigene Welt erfinden. Vieles liegt außerhalb unserer Kontrolle, aber einfach zur Arbeit erscheinen, das kann ich. Ich bin sehr dankbar, dass ich mich dafür entschieden habe.