In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die sein Leben bereichern. Folge 4: die Videokünstlerin Pipilotti Rist und das sanfte Glück
ShareSeit einiger Zeit schon verspüre ich eine große Erschöpfung. Mal wiegt sie schwerer, mal leichter, aber sie ist immer da. Sie hat mit einem herausfordernden Arbeitspensum und einigen ebenso herausfordernden persönlichen Erlebnissen zu tun. Aber ich frage mich immer häufiger, ob sie nicht auch dem Zustand der Welt geschuldet ist, der wachsenden Unsicherheit, die uns umgibt, und all den Verlusten, die sich in den vergangenen Jahren angesammelt haben. Ich habe den Eindruck, dass es vielen von uns so geht. Man gewöhnt sich an dieses unterschwellige Erschöpfungsgefühl und macht einfach weiter, weil das die beste Lösung scheint. Aber innerlich sehnt man sich nach Linderung.
Ein Weg, diese Linderung zu finden, sich für ein paar Stunden zu entspannen und etwas Kraft zu schöpfen, kann der Besuch von Ausstellungen sein. Im besten Fall löst Kunst etwas in uns aus, das man nur schwer in Worte fassen kann: eine kleine Befreiung, ein Durchatmen, eine Art Loslassen, zu dem es kommt, wenn man Abstand von sich und seinem Alltag nimmt.
Wenn ich an die Künstlerinnen und Künstler denke, deren Arbeiten diese Wirkung auf mich haben, sticht ein Name besonders hervor – der von Pipilotti Rist. Von kaum jemand anderem haben sich so viele Werke in mein Gedächtnis eingegraben. Ich habe fast ein wenig Angst davor, an ihre frühen Videos „I’m not the Girl Who Misses Much“ (1986) oder „Sip My Ocean“ (1996) zu denken, weil mich deren ohrwurmhaften Soundtracks dann den ganzen Tag begleiten, ich vor dem Supermarktregal stehe und „I’m not the girl who misses much, düddelüdüdüdü“ vor mich hinsinge oder gerne Rists Version von Chris Isaaks Liedzeile „Iiiiiiiiiii don’t wanna fall in love!!!“ kreischen würde. Soweit es nur irgend geht, besuche ich jede ihrer Ausstellungen. Immer wenn ich in Zürich bin, gehe ich in den Neubau des Kunsthauses, um mir ihre dortige Installation „Pixelwald Motherboard“ (2016) anzuschauen, eine der wundersamsten und magischsten Kunstwerke, die ich kenne. Keine New-York-Reise kommt ohne einen Besuch des MoMA P.S.1 aus, in dessen Vorraum ich nach dem kleinen, unter den Dielen hervorlugenden Monitor ihres Videos „Selbstlos im Lavabad“ (1994) suche, in dem sie, die Arme nach oben gestreckt, auf lustigste Weise um Hilfe ruft. Wenn ich die Wahl zwischen einem Nachmittag in einem luxuriösen Spa und einem ihrer sphärisch-meditativen Environments hätte, „Mercy Garden Retour Skin“ (2014) etwa oder „4th Floor to Mildness“ (2016), würde ich immer ihre Installation wählen.
Das Werk der im schweizerischen Rheintal als Elisabeth Charlotte Rist geborenen Künstlerin, die heute mit ihrer Familie in Zürich lebt, hat in vielerlei Hinsicht Pionierarbeit geleistet. Noch als Studentin an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel stellte sie jenes Ohrwurm-provozierende Video „I’m not the Girl Who Misses Much“ her, nachts, im Werbefilmstudio eines Chemieunternehmens, in dem sie jobbte. Die titelgebende Zeile, die darin mehrfach wiederholt und mal schneller und mal langsamer abgespult wird, stammt aus dem rätselhaften Beatles-Song „Happiness is a Warm Gun“. Rist singt diese Zeile und tanzt, hüpft und hampelt dazu halbnackt auf eine Weise umher, die unmerklich einige Tabus bricht. Die damals neuen Bild- und Tonverfremdungstechniken des Videos sorgen nicht nur für seine Komik, sondern auch für seine originäre Fusion zwischen den Sprachen der MTV-Videoästhetik jener Jahre und der von Videokunst und Kunstfilmen einer Joan Jonas, Yoko Ono oder Valie Export. Dabei entsteht nichts weniger als eine so grandiose wie vieldeutige feministische Inszenierung von Entgrenzung. Ohne seine Ambivalenz je aufzulösen, scheint die Arbeit zu sagen, dass es in dieser Entgrenzung einen Ausweg aus Konsumkultur, Rollenbildern und Geschlechtszuschreibungen gibt. Die titelgebende Zeile lässt sich in diesem Sinne zweifach verstehen: Ironisch – als „Ich bin das Mädchen, dem es an nichts fehlt“ – und bitterernst – als „Ich bin das Mädchen, dem nicht viel entgeht“.
Wenn man sich Rists jahrzehntelangen Siegeszug durch Museen und Biennalen verdeutlicht, gerät man immer wieder ins Staunen über den Einfallsreichtum, die Disziplin, die Lebenslust und die innere Notwendigkeit ihrer Arbeit. Über die Konsequenz, mit der sie ihr Werk weiterentwickelt. Ich kenne niemand anderen, die das Medium des Videos so radikal ausbuchstabiert und erweitert und dabei so ikonische Bilder geschaffen hat wie sie. Bilder umherschwebender Blüten und seltsam asexueller Lippen, Brüste, Vulven, Hände, Penisse und Ani etwa („Pickelporno“, 1992). Oder jene unter anderem von Beyoncé kopierte Frau, die eine Straße entlanggeht und mit einer stahlgewordenen afrikanischen Fackellilie jubilierend Autofenster einschlägt – wozu ihr eine vorbeikommende Polizistin noch lächelnd gratuliert („Ever is Over All“, 1997).
Nach und nach ließ Rist dabei nicht nur den Bildschirm hinter sich – „Ever is Over All“ etwa war eine ihrer ersten Arbeiten, die als ein Zweikanalvideo über Eck auf zwei aneinandergrenzende Wände projiziert wurde –, sondern auch die rechteckige Projektionsfläche und häufig sogar den Museumsraum selbst. Auf mehreren Werbebildschirmen am New Yorker Times Square ließ sich beobachten, wie sie ihr lippenstiftverschmiertes Gesicht immer wieder gegen eine Scheibe presste („Open My Glade (Flatten)“, 2000). In der barocken San-Stae-Kirche am venezianischen Canal Grande gab sie den Betrachtenden die Möglichkeit, sich auf den mit Betten und Kissen ausgestatteten Boden zu legen und zu beobachten, wie zwei nackte Eva-Figuren durch einen an die Decke projizierten quasi-biblisches Technicolor-Garten-Fresko schweben („Homo Sapiens Sapiens“, 2005).