In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die sein Leben begleiten. Folge 2: die Malerin Helen Frankenthaler und ihre Farben
ShareEs gibt Ausstellungen, die man nicht vergisst. Ausstellungen, die sich so tief ins Gedächtnis einbrennen, dass man sich auch Jahre später noch daran erinnern kann, wie das Licht in ihre Räume fiel. Wie man sich gefühlt hat, als man bestimmte Werke ein zweites oder drittes Mal anschaute, weil man den Augenblick festhalten wollte. Wie man das Museum oder die Galerie mit der Ahnung verließ, gerade etwas Einschneidendes erlebt zu haben.
Eine solche Erfahrungen machte ich 2018 im Provincetown Art Museum bei „Abstract Climates“, einer Ausstellung mit Arbeiten von Helen Frankenthaler (1928–2011), der New Yorker abstrakten Expressionistin und Farbfeld-Pionierin, die zeitlebens eine enge Verbindung zu dem kleinen Küstenstädtchen in Massachusetts unterhielt. Ich hatte das Gefühl, ihre Bilder zum ersten Mal wirklich, in einem umfänglichen Sinne zu sehen und etwas von Malerei zu verstehen, das ich vorher allenfalls geahnt hatte. In der Ausstellung schien eine Art der Kommunikation zwischen den Werken und mir stattzufinden, die ich nicht in Worte fassen konnte, und über diesen Umweg auch zwischen Frankenthaler und mir.
Als ich durch die „Abstract Climates“ ging und mich im Farbrausch von Werken wie „Cool Summer“ (1962) oder „Provincetown Window“ (1963) verlor, herausragende Beispiele für die von Frankenthaler erfundene Soak-Stain-Technik, geisterten mir die ganze Zeit die Fetzen eines Satzes von Roland Barthes durch den Kopf, den ich später nachschlug: „Wäre ich Maler“, schrieb er in „Über mich selbst“, „so würde ich nur Farben malen: dieses Feld scheint mir gleichermaßen von dem Gesetz (…) und der Natur befreit zu sein (denn kommen letzten Endes nicht alle Farben der Natur von den Malern?).“
Provincetown ist eigentlich nicht der Ort, an dem man solche Erlebnisse erwartet. Völlig abgelegen liegt es am obersten Zipfel der Halbinsel Cape Cod. Lange wurde es nur von portugiesischstämmigen Familien bewohnt, die vom Fisch- und Walfang lebten. Später bildete sich hier eine kleine Künstlerkolonie heraus. Heute strömen an den Sommerwochenenden so viele Touristinnen und Touristen in die Stadt, dass man vor ihnen an einen der Strände fliehen muss, die man nur nach langen Fußwegen durchs Marschland erreicht und die so poetische Namen wie Herring Cove tragen. Aber spätabends und am frühen Morgen hat man, umgeben von den Weiten des Atlantiks, immer noch das Gefühl, dass man sich hier am äußersten Ende der Welt befindet.
Frankenthaler verbrachte viele Jahre lang ihre Sommer in Provincetown, nachdem sie 1950 als junge Frau zum ersten Mal hier gewesen war. Die Tochter einer deutschen Emigrantin und eines Richters am New York State Supreme Court war in Manhattan in der Upper East Side aufgewachsen und nach ihrem Kunststudium an der Dalton School und am Bennington College zurück nach New York gezogen, um das zu erreichen, was für Frauen in jenen Jahren so gut wie unmöglich war: Malerin zu werden. Sie fand Anschluss an die New Yorker Szene der abstrakten Expressionisten um Jackson Pollock, Mark Rothko, Willem de Kooning, Franz Kline und Robert Motherwell, die zu diesem Zeitpunkt noch kaum jemand kannte.
Im Frühjahr 1950 kam sie mit dem bekannten Kunstkritiker Clement Greenberg zusammen, dessen Texte den theoretischen Überbau für die neue Bewegung lieferten und der fast 20 Jahre älter war als sie. Die Beziehung sollte fünf Jahre halten. Es war Greenberg, der Frankenthaler empfahl, Hans Hofmanns einflussreiche Sommermalschule in Provincetown zu besuchen, wo sie sich ins Meer verliebte. Die abstrakten Plein-Air-Bilder, die in jenen Monaten in der offenen Veranda ihres Hauses mit Blick auf das Wasser entstanden, gelten als ihre ersten eigenständigen Werke. Darin löste sie sich nicht nur von ihren malerischen Vorbildern und warf viele gängige Malkonventionen über Bord, sie entwickelte auch eine ganz eigene maritime Fluidität, ein ozeanisches Leuchten, eine aquatische Farbintensität, die es nur geben kann, wenn sich das Sonnenlicht in den Weiten des Atlantiks spiegelt.
In den Worten von Mary Gabriel, der Autorin des Buchs „Ninth Street Women“, waren die „bedeutendsten Statements“ des abstrakten Expressionismus schon gemacht, als Frankenthaler zu malen begann. „Jackson Pollock hatte seine sogenannten Drip Paintings erschaffen. Mark Rothko hatte sein ätherisches Licht entdeckt. Willem de Kooning hatte zur reinen Abstraktion gefunden (…)“. Frankenthaler ging es wie ihren großen Zeitgenossinnen Lee Krasner, Elaine de Kooning, Joan Mitchell und Grace Hartigan: Sie stand vor einer gewaltigen Herausforderung. Die Gesellschaft gestand Frauen in der Kunst nach wie vor höchstens die Rolle von Musen zu, und die im Gegensatz zu ihnen als Genies gefeierten Männer sahen in ihnen vor allem Ehefrauen oder Sekretärinnen.
Es gibt ein Foto, das Frankenthaler und Greenberg 1951 mit Pollock und Krasner am Strand von Long Island zeigt. Es entstand bei einem Besuch beim später so berühmten Paar, bei dem Frankenthaler auch Pollocks Atelier in Augenschein nahm. Auf der einen Seite sitzen die beiden glatzköpfigen, etwas griesgrämig wirkenden Männer, auf der anderen Seite die glamouröse Freundin des einen und die ebenso glamouröse Ehefrau des anderen. Höchstwahrscheinlich hatten sie diese Strandpartie organisiert und für Verpflegung und Badeutensilien gesorgt. Ihre malerischen und intellektuellen Innovationen standen denen der beiden Herren in nichts nach, trotzdem galten sie als deren Begleitung. Auch die Malerinnen untereinander unterstützten sich, bis auf Krasner und Frankenthaler, eher selten. Joan Mitchell etwa brachte das Werk Frankenthalers durch gehässige Kommentare immer wieder in Verbindung mit Menstruationsblut und Körperflüssigkeiten. Auch wenn diese Ebene in den Werke der Malerin tatsächlich eine Rolle spielte, war das abwertend gemeint. Am Tisch der Größen der Gegenwartskunst gab es allenfalls einen halben Platz für Malerinnen. Umso erbitterter musste um diesen Platz gekämpft werden.
Frankenthaler stellte sich der Herausforderung – wie übrigens auch Mitchell, Krasner, Hartigan und de Kooning –, indem sie zu völlig anderen Ufern aufbrach. Pollocks Drip-Technik hatte sie bei ihrem Besuch auf Long Island nachhaltig beeindruckt. Als sie 1952 nach einem Aufenthalt in Nova Scotia nach New York zurückkehrte, fand sie einen Weg, seine performancebasierte und körperbetonte Malerei auf eine neue, ungeahnte Ebene zu heben. Sie drapierte eine etwa zwei mal drei Meter große, rohe Leinwand auf dem Boden ihres Ateliers und mischte stark mit Terpentin verdünnte Ölfarbe in Eimern und Kaffeedosen an. Mit Kohle zeichnete sie einige große intuitive Linien auf den Maluntergrund und kippte dann in großen Gesten die Farben daraus aus. Auf dem Boden knieend bearbeitete sie die Farbpfützen mit Händen, Besen, Lappen und anderen Werkzeugen und beobachtete, wie sie ineinanderflossen, welche Formen und Übergänge sich ergaben. Dabei versuchte sie, wie sie sich später erinnern sollte, „auszublenden“, dass sie „nicht wusste, was dabei herauskommen würde“. Die Weißflächen der rohen Leinwand erhob sie dabei zu einem kompositorischen Prinzip, die wenigen klar definierten Kohlelinien rhythmisierten die Ebbe und Flut schwereloser pfirsichfarbener, türkis- und englischblauer Farbozeane.
„Mountains and Sea“, das Bild, das so entstand, sollte eines der einschneidenden Ereignisse der Kunstgeschichte der Nachkriegszeit darstellen, die Gründungsszene der Farbfeldmalerei. Seine schwebenden Formen schienen nichts zu bedeuten und doch so viel auszudrücken und mit so vielen Gefühlen gesättigt zu sein. Wie der Titel der Arbeit andeutete, handelte es sich um eine neue Art von Landschaftsbild. Frankenthaler spürte, dass sie die Landschaft von Nova Scotia noch „in den Armen“ hatte. Das Bild war keine visuelle Repräsentation von Bergen und Meer, sondern etwas anderes. Es war der Ausdruck eines psychischen Landschaftsbilds, das sich in Frankenthalers Körper und ihr Unbewusstes eingeschrieben hatte.
Wenn ich die Augen schließe, kann ich mich noch genau an die Schau im Provincetown Art Museum erinnern, daran, wie die Werke in den Ausstellungsräumen hingen, daran, dass ich das Licht des Küstenstädtchens, als ich aus dem Museum trat, auf einmal anders auf mich wirkte. Ich kann mich nicht an die Farben der Bilder erinnern, aber daran, was sie in mir auslösten.
Die Bilder, die Frankenthaler in Provincetown malte und die den Kern von „Abstract Climates“ ausmachten, folgten demselben Prinzip wie „Mountains and Sea“, und doch war jedes Bild von Grund auf anders. Frankenthaler sollte ihr Leben lang darauf verzichten, in Serien zu arbeiten – wie es etwa Kenneth Noland und Louis Morris taten, die auf Anregung Greenbergs Frankenthalers Atelier besuchten und sich von ihr inspiriert ebenfalls der Farbfeldmalerei widmeten. Für die Malerin war jede Arbeit ein neuer Sprung ins Wasser. Sie sollte die Soak-Stain-Technik immer weiter verfeinern und sie immer wieder neu zu einem Echoraum ihrer Erinnerungen, Gefühle, Stimmungen, aber auch der Kunstdiskurse ihrer Zeit machen. Dass ihr der vollumfängliche Ruhm für ihre Errungenschaft lange verwehrt blieb, lag unter anderem daran, dass Greenberg, nachdem sich Frankenthaler von ihm getrennt und den Maler Robert Motherwell geheiratet hatte, kurzum Noland und Louis zu den Begründern der Farbfeldmalerei ernannte. Erst Jahre später wurde deutlich, wie tief die kunsthistorische Zäsur in der Geschichte der Abstraktion war, die Frankenthaler gesetzt hatte.
In den Sommern in Provincetown ging Frankenthaler nach und nach dazu über, Acryl- statt Ölfarbe zu verwenden, die sie allerdings auf die gleiche Art und Weise benutzte. Regnerische Tage schlugen sich in Farbmeeren aus Goldocker und Grünerde nieder, ein kühler Sommer fand in einem Tanz fluider Flächen aus Indischgelb, Coelinblau und Zinnobergrün Ausdruck. Bis heute bin ich davon überrascht, wie exotisch, delirierend und halluzinatorisch die Farben ihrer Werke in Provincetown waren, wie vollständig sich in ihren Bildern das anarchische Versprechen von Farbe einlöste: Ihre seltsame Unvorhersehbarkeit, ihre manchmal schamlos dekorative Macht, ihre radikale Flüchtigkeit. Wenn Farben visuelle Fiktionen des Lichts sind, waren Frankenthalers Farben die gewaltigsten Fiktionen, die ich seit Langem gesehen hatte, sie waren die „Ilias“ und die „Odyssee“ der Malerei, sie waren alle Romane von Leo Tolstoi, Gustave Flaubert und Edith Wharton zusammen.
Jener Sommer übrigens sollte mein bis dato letzter in Provincetown werden. Weil ein großzügiger Freund mich in das Haus, das er sich dort mietete, einlud, war ich eine Zeit lang jedes Jahr in das Küstenstädtchen gekommen. Doch dieser Freund würde nach dem Sommer nach Barcelona ziehen und seine freie Zeit am Mittelmeer verbringen. Vielleicht lag es auch mit daran, dass mich die Ausstellung so berührte und Frankenthalers Arbeiten für mich so unabdingbar mit den Aufenthalten auf Cape Cod verbunden sind. Die Werke der Ausstellungen beschrieben nichts, ihr Blau ließ sich nicht im Rauschen des Atlantiks wiederfinden, ihre Ockertöne nicht in den Dünen des Strands – dennoch ergaben sie an diesem Ort einen ganz besonderen Sinn. Es war, als würde ich die psychischen Bilder, die Frankenthaler unter Einsatz ihres Körpers auf die Leinwände bannte, mit meinem eigenen Körper verstehen. Sie kamen mir wie ein Schlüssel zu dem Ort vor, den ich so liebte. Sie zeigten mir, wie ich ihn wirklich sehen konnte.
Genau darin lag jene kommunikative Kraft der Bilder dieser Ausstellung, für die ich keine Worte fand. Unter ihrer Anleitung und erfüllt von einem Gefühl des Abschieds schien ich in den Tagen danach alles intensiver wahrzunehmen, schien den Menschen, denen ich begegnete, offener gegenüber zu sein, war durchlässiger für die Atmosphäre des pittoresken Städtchens, für die salzige Luft, die brennende Sonne und das intensive Licht, das sich in den Weiten des Atlantiks spiegelte. Ein Licht, das einen wie viele der Arbeiten Frankenthalers, berauschen kann.
„Helen Frankenthaler. Move and Make“
Museum Reinhard Ernst, Wiesbaden
bis 28. September 2025