Kunstwissen

Baden in der Spree

Ein Flussbad an der Museumsinsel scheint auf den ersten Blick eine Träumerei. Doch der Plan gewinnt internationale Anerkennung – und immer mehr Freunde. Am 2. Juli sollte der Startschuss für den 3. Berliner Flussbad Pokal mit über 360 Teilnehmern erfolgen, extremes Wetter sorgte aber für eine Planänderung

Von Ilka Piepgras
03.07.2017

Kurz nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatten, das war 1998, verbrachten die ­Architekten Tim und Jan Edler viel Zeit an der Monbijoubrücke. Dort, im historischen Zentrum Berlins, lag das Atelier der Gruppe „Kunst und Technik“, zu der die Brüder gehörten. Von ihrem Arbeitsplatz aus sahen sie die Spree an der Spitze der Museumsinsel das Bode-Museum umspielen. Links am ­Museum fließt der breitere Arm des Flusses vorbei, rechts der schmale Spreekanal. Irgendwann fiel den Brüdern auf, dass Schiffe nur im Hauptfluss verkehrten, nicht jedoch im ­Kanal. Der ist seit vielen Jahrzehnten still­gelegt, nicht mal Sportboote sind dort mehr erlaubt.
Der ungenutzte Kanal ließ den Edlers keine Ruhe. Unverhofft bot sich hier mitten im historischen Stadtzentrum die Chance, einem 1,6 Kilometer langen Areal eine neue Funktion zu geben und einen bis dahin komplett vernachlässigten Raum im Herzen Berlins mit neuem Leben zu erfüllen. Dann plötzlich der kühne Gedanke: Wie wäre es, den Fluss zum Schwimmen zu nutzen? Das Wasser zu säubern und ein Flussbad zu errichten? Erste Pläne wurden entworfen und dem damaligen Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung vorgelegt. Der fand die Idee charmant. Und so wenig realistisch, dass man unbefangen darüber reden könne.

18 Jahre sind seither vergangen – Jahre, in denen Tim und Jan Edler ihre Idee hartnäckig vorangetrieben haben. Verbündete wurden gesucht und Mitstreiter gefunden, Probleme erkannt und Lösungen skizziert. Ende 2011 dann der Durchbruch: Das Flussbad-Projekt erhält den internationalen Holcim Award für nachhaltiges Bauen. Einen Monat später wird der Verein „Flussbad Berlin“ gegründet, bei dem Tim und Jan Edler fest angestellt sind. Aus der anfänglichen Idee ist ein konkretes Projekt geworden, aus dem losen Engagement eine Berufung. Aus Lotto-Mitteln wird eine Machbarkeitsstudie erstellt und Ende 2014 fördern der Bund und das Land Berlin „Flussbad Berlin“ mit insgesamt vier Millionen Euro. Die kühne Idee hat feste Konturen bekommen.
„Vor dem Holcim Award galten wir als Verrückte. Dann hat man sich gefragt, wieso wir 100.000 Dollar für ein Projekt kriegen, das in Berlin niemand kennt. Erst die Anerkennung von außen hat uns in der Stadt vorangebracht“, sagt Tim Edler. Die Winterjacke bis oben zugezogen, steht der 51-Jährige an einem windigen Februarmorgen an der Gertraudenbrücke, dem äußeren Ende des skizzierten Flussbad-Areals. Hier, an der Friedrichsgracht, sieht das Flussbad-Team in seinen Planspielen ein 1,8 Hektar großes Schilfbiotop mit versenktem Sandfilter vor, das dem schmutzigen Spreewasser Badequalität verschaffen soll. Wie verschmutzt das Flusswasser derzeit ist, zeigt ein Blick in den Kanal: Taucher von der Berliner Wasserverwaltung ziehen an diesem Vormittag im überfallenden Wasser eines Wehrs, das sich kurz hinter der Gertraudenbrücke befindet, Müll aus der Spree. Ein Stück Teppichboden, Plastikflaschen und Milchtüten gehören heute zur Ausbeute. ­Regelmäßig werden auch Fahrräder, Einkaufswagen und sogar Sofas aus dem Wasser gezogen. Nicht zu vergessen der Hundekot, ein Riesenthema in der Stadt. Rund 50 Tonnen fallen täglich an, viel davon landet im Fluss.

Generell gilt in der Innenstadt ein Badeverbot in der Spree – aus Sicherheitsgründen, denn der Fluss ist eine Wasserstraße. Aber auch die Hygiene spielt eine große Rolle: Ein Viertel Berlins wird nach dem Mischverfahren entwässert, das heißt, Schmutz- und Regenwasser wird durch ein und denselben Kanal abgeleitet. Bei starkem Regen läuft die Kanalisation über – und die Fäkalien werden in die Spree gespült. So gelangen Keime ins Wasser, die Krankheiten verursachen. Ende Juni trat dieser Fall ein. Der Berliner Jahrhundertregen spülte soviel Abwasser und Schmutz ein, dass der für den 2. Juli geplante Startschuss zum  3. Berliner Flussbad Pokal abgesagt werden musste. Die über 360 Teilnehmer waren stattdessen eingeladen, zu singen statt zu schwimmen. Zusammen mit der Sängerin Barbara Morgenstern und dem Chor der Kulturen der Welt traf man sich auf der Monbijoubrücke, um auf diese Weise ein Zeichen für Gewässerschutz zu setzen. 
„Das Flussbad ist Ausdruck des Lebensstils einer aktiven und umweltbewussten Generation, der ein sauberer Fluss wichtiger ist als der Besitz eines Autos“, sagt Tim Edler. Es gehe dem Verein nicht allein ums Schwimmen, sondern auch darum, ein Bewusstsein für sauberes Wasser zu schaffen, betont er. Viele große Städte haben dieses Thema längst für sich entdeckt und umgesetzt. In München, Zürich, Bern, Basel und Kopenhagen etwa laden öffentliche Gewässer dazu ein, die Stadt beim Baden aus einer neuen Perspektive kennenzulernen.
Auf dem Rundgang am Spreekanal spricht Tim Edler von der „Sehnsucht, direkt ans Wasser heranzukommen“. Derzeit ist der Fluss eingemauert und für Spaziergänger nicht zu erreichen. Nichts lädt zum Verweilen ein, nirgendwo kann man die Füße im Wasser baumeln lassen. Geht es nach „Flussbad Berlin“, würde es im Bereich der Gertraudenbrücke und dem Schilfgürtel Uferwege auf der Kanalmauer geben und darunter Holzstege, die direkt ans Wasser führen. Computergestützte Pläne, die Edler in einer großen Mappe mitgebracht hat, verschaffen einen Eindruck von der Utopie der renaturierten Spree. Zumindest auf den Bildern wird die Parkplatz- und Hochhaus-Ödnis der Fischerinsel – dem äußeren Ende der Museumsinsel – durch eine zauberhafte Wasserlandschaft erweitert.

Auf Edlers Plan endet der Filterbereich an der Jungfernbrücke – einer Klappbrücke, die zu den ältesten Berlins gehört und wie die meisten Brücken unter Denkmalschutz steht. Ein paar Schritte hinter der Jungfernbrücke, zwischen Auswärtigem Amt und ehemaligem Staatsratsgebäude, hält Edler inne: „Das ist eine spannende Stelle: Vor hundert Jahren war hier eine kleine Badeanstalt.“ Heute deutet nichts mehr darauf hin, dass es um 1900 einmal 15 Flussbadeanstalten in Berlin gab, 1925 wurde die letzte davon geschlossen. Das Baden in der Spree hat also durchaus Tradition.
Ein paar Schritte weiter stadteinwärts passiert der Spreekanal die Baustelle des Berliner Stadtschlosses. Hier, zwischen Schleusen- und Schlossbrücke, in unmittelbarer Nähe des geplanten Einheits- und Freiheitsdenkmals, sieht „Flussbad Berlin“ den idealen Ort für eine breite Treppe, die Schwimmern den Zugang zum Wasser ermöglichen würde sowie Platz für die diskrete Unterbringung von Umkleidekabinen, Schließfächern und Duschen. Der Einstieg zum Schwimmen – eine weitere Treppe ist im Bereich des Lustgartens skizziert, der mit dem Alten Museum und dem Berliner Dom das Herzstück der Museumsinsel bildet – gehört zu den größten Herausforderungen der Flussbad-Planer. Die Treppen und die damit verbundene Öffnung des Spreekanals stehen für den größten baulichen Eingriff des Projekts – sie sind gewissermaßen Sinnbild für das, wofür das Flussbad ideell steht: Es will ein Ort der Begegnung sein, attraktiv für alle Berliner und nicht nur für die, die ins Museum gehen oder Sightseeing betreiben. „Es wäre ein Gegengewicht zu denjenigen, die im historischen Zentrum am liebsten noch Postkutschen fahren lassen würden. Es geht um ein Stadtzentrum, in dem auch andere Werte sichtbar sind: die pluralistische Stadt, der ­öffentliche Ort für alle, der saubere Fluss, die Ökologie, das Zusammenwirken verschiedener Nutzungen“, so Tim Edler.

Wie bemerkenswert die Flussbad-Utopie ist, zeigt sich am wachsenden Protest gegen das Projekt. Berlins historische Mitte steht für Hochkultur und Repräsentation, viele städteplanerische Entscheidungen der Jahre nach der Wiedervereinigung sind von einem konservativen Geist geprägt. Und mitten hinein in die Debatte um die Nutzung der historischen Mitte grätscht „Flussbad Berlin“ mit seiner Vision von jungen Berlinern, die an lauen Sommerabenden nach einem Bad in der Spree gut gelaunt auf den Stufen der breit ausladenden Bade-Treppen lagern. Dass Fröhlichkeit auch in Lärm umschlagen kann, dass Müll hinterlassen wird und dass der Anblick von Menschen in Badekleidung auf der Museumsinsel gewöhnungsbedürftig ist, bereitet manch einem Sorgen. Schon sehen Gegner des Projekts die Würde des Ortes verletzt und befürchten eine Trivialisierung der Museumsinsel – schlimmstenfalls womöglich die Aberkennung ihres Status als Weltkulturerbe.
Jan Edler kann viele Einwände seiner Kritiker nachvollziehen, etwa die denkmalschützerische Sorge um die Veränderung der Ufermauer, die zum Teil noch von Schinkel stammt. Er ist jedoch überzeugt, dass sich Kompromisse und Lösungen finden lassen, wenn man erst miteinander ins Gespräch kommt. So hängt die Zukunft des Flussbad-Projektes weniger von seiner Finanzierbarkeit ab, als vielmehr von der Identität des Ortes. Was auch immer am Ende entschieden wird – die Diskussion darüber verändert schon jetzt die Stadt. Sie schafft ein Bewusstsein für den Gegensatz von Tradition und Aufbruch. Einerseits die Hoffnung, dass Rekonstruktion zu einem Wiederaufleben bürgerlicher Werte führt. Andererseits die Überzeugung, dass ein Gefühl von Stadt nur dort entsteht, wo unterschiedliche Sichtweisen einander ergänzen. Wem gehört der Fluss? Die Antwort auf diese Frage zu finden entwickelt sich in Berlin zu einem spannenden Prozess.

Eine Version dieses Beitrags finden Sie in der WELTKUNST Nr. 114/2016 – Berlin-Spezial

Zur Startseite