Erez Israeli

Schuld und Brezel

Mit seinem „Pretzelman“ markiert der Künstler Erez Israeli Katastrophen, Klischees und offene Wunden im Verhältnis zwischen Deutschen und Juden. Derzeit ist der Werkzyklus in der Galerie Crone in Berlin zu sehen

Von Sebastian Preuss
12.01.2022

Wo sind wir hier? Was ist das für ein Land, in dem alle Menschen ihre Köpfe eingebüßt haben und stattdessen große Brezeln auf den Hälsen sitzen? Der Pretzelman taucht in den unterschiedlichsten Situationen und Kunsttechniken auf. Mal läuft er als Polyesterskulptur durch die Gegend, braungebrannt wie ein Backwerk frisch aus dem Ofen, die Gliedmaßen lang und dünn, eine gewaltige Erektion ragt empor, in den Kringeln des Brezelkopfs sitzen blaue Kulleraugen. Ein anderes Mal tritt er als großes Pappmaché-Gebilde in Erscheinung, die man sich auf den Kopf setzen kann. So läuft ein nackter junger Mann damit im Video „The Enchanted Forest“ zu Richard-Wagner-Klängen durch den Wald. Man denkt an „Hänsel und Gretel“, aber auch an Shakespeares „Sommernachtstraum“.

Im Gemälde „Bathing with Balloons“ tummelt sich eine ganze Gruppe nackter Brezelmänner an einem See. Auf einem Poster verkündet der Pretzelman in Nazi-Uniform „Tomorrow belongs to me“, und auf Malerpaletten posiert er als lässiger Intellektueller. Erez Israeli, der Urheber dieser Kunstfigur, markiert mit ihr ganz offenkundig kulturelle Stereotypen, legt wie so oft in seinen Arbeiten Finger in historische Traumata, vor allem die nie vergängliche Katastrophe des Holocausts, verhandelt die Frage, die sich durch sein ganzes Werk zieht, nämlich was es heißt, Jude und Bürger Israels zu sein.

Aber was genau soll uns die massive Anhäufung dieses deutschen Backprodukts in Israelis neuer Werkserie vermitteln? Will der Künstler uns damit auf den Arm nehmen? Will er uns vorgeblich auf den schmalen Grat der Banalität locken, aber insgeheim in Abgründe führen? Will er uns gar weiß machen, dass die Brezel für ihn eine Metapher der menschlichen Existenz ist, ein knackiges, deutsches Symbol, an dem sich der Betrachter die Zähne ausbeißt – oder zumindest verschluckt?

Erez Israeli Galerie Crone
Erez Israeli macht die deutsche Brezel zur Metapher für die Banalität wie die Komplexität menschlicher Existenz: „Walking Pretzelman #1 und #2“. © Galerie Crone, Berlin Wien, Foto: Uwe Walter

Der Pretzelman wurde im Juli 2017 im Flugzeug auf dem Weg von Tel Aviv nach Berlin geboren. Mit dem Finger zeichnete Erez Israeli auf seinem iPhone in schnellen, fast gekritzelten Linien über einige Schnappschussfotos, die von seinen Reisen stammten oder die ihm Freunde geschickt hatten. Spielerisch probierte er aus, was sich mit einer Brezel alles machen ließ. Unwillkürlich nahm sie menschliche Züge an, erhielt Augen in den beiden Kringeln, der dicke Bogen entpuppte sich als Mund. Hinzu kamen Gliedmaßen, bald ein ganzer Körper, so wurde daraus eine Figur mit einem Brezel-Gesicht.

In dieser Zeit beschäftigte sich Israeli intensiv mit „Hänsel und Gretel“. In vielen Illustrationen zu dem Märchen tauchen Brezeln auf, in der Hand der beiden verirrten Geschwister oder vor allem am Haus der kinderfressenden Hexe. Bei Israeli war daraus der großformatige, gold-schwarze Zeichnungszyklus „Ami & Tami“ entstanden, abgeleitet von einer israelischen Kinderoper, die Hänsel und Gretel in die Gegenwart überführt. In Israelis Version ist die ohnehin schon abgründige Geschichte mit Bezügen zum Holocaust aufgeladen: Nackte Schergen mit Wehrmachthelmen drangsalieren ihre Opfer. Das Hexenhaus mutiert zur Toreinfahrt von Auschwitz-Birkenau, Brezeln an den Fassaden locken die Opfer an. Dass die beiden Kinder hier als nackte Jungs mit erigierten Penissen auftauchen, rückt das Ganze zudem in eine queere Sphäre, wie es bei Israeli häufig geschieht.

Erez Israeli Galerie Crone
Ausstellungsansicht bei Crone Berlin. © Galerie Crone, Berlin Wien, Foto: Uwe Walter

Als „Ami & Tami“ im Februar/März 2019 im Berliner Künstlerhaus Bethanien gezeigt wurde, schuf der Künstler dort auch „Pretzel’s Net“, eine wandfüllende Installation aus 1400 weißen Gips-Brezeln, von Drähten wie in einem riesigen Gewebe zusammengehalten. Die Brezel sei für ihn etwas „sehr Deutsches“, sagt Israeli. Seit er 2015 von Tel Aviv nach Berlin zog, drehen sich viele seiner Werke um Stereotype deutscher Kultur. „Ich habe keine Angst vor Klischees“, betont er und entwickelt aus vermeintlich undifferenzierten Bildtypen mit provokativer Lust Motiv- und Ideencollagen, die auf den ersten Blick oft plakativ, zuweilen auch roh erscheinen, in Wirklichkeit aber in ziemlich komplexer Weise dazu einladen, sich auf die Geschichte und ihre noch heute brisanten Folgen einzulassen.

Israeli rührt an Bereiche, die wehtun. In seiner Heimat, wo er wie alle jungen Frauen und Männer den Militärdienst absolvierte, erregte er schon früh Aufsehen, als er in Skulpturen und anderen Arbeiten das heikle Thema des toten Soldaten aufgriff. In fast allen seinen Werken geht es um Fragen der jüdischen Geschichte und Identität. Erez Israeli – unwillkürlich an „Eretz Israel“ erinnernd, die schon im Alten Testament verwendete, vom Zionismus um 1900 wiederaufgegriffene Bezeichnung für das Gelobte Land – ist übrigens kein Pseudonym, sondern der angeborene Name des Künstlers.

Mit dem Pretzelman führt Israeli eine nur vordergründig witzige Travestie vor. Es ist ein groteskes Theater, das vermeintlich vor nichts Respekt hat, indem es neben akademischen Aktzeichnungen und kindlich anmutenden Stoffreliefs, Selbstporträts jüdischer Künstler und antisemitischer Karikaturen der Nazizeit auch christliche Heiligenfiguren mit Brezelköpfen versieht. Welche Umwertung er dadurch erreicht, ist nicht so leicht zu fassen. Ein Aspekt ist die Vermischung der Klischees, die manchen Betrachter vor den Kopf stoßen mag. Immer wieder lässt Israeli die „deutsche“ Brezel an den beiden verschlungenen Kringeln lang und verdickt enden. Erklärtermaßen spielt er damit auf die vorgeblich große „jüdische Nase“ an. Dass es dabei auch um eine phallische Aufladung geht, unterstreichen die Erektionen, die viele der Pretzelmen vor sich hertragen.

Erez Israeli Galerie Crone
Blick in die Ausstellung, links die Hitler-Brezel-Skulptur „O’zapft is“, 2021, rechts die Serie der von Erez Israeli umgedeuteten Selbstporträts ermordeter jüdischer Künstler. © Galerie Crone, Berlin Wien, Foto: Uwe Walter

Israeli kalkuliert bei diesen visuellen Konnotationen ganz bewusst ein, dass sich Betrachter angewidert oder pikiert abwenden, dass es ihnen zu viel ist, zu provokant, zu vordergründig. Er kultiviert eine Weisheit von Hugo von Hofmannsthal zum Exzess: Dass man das Tiefe am besten an der Oberfläche versteckt.

Ihm, dem israelischen Künstler, der in Deutschland lebt, geht es in seiner Kunst seit jeher darum, dass Juden deutsches Allgemeingut, deutsches Kulturgut, deutschen Krimskrams, deutschen Kitsch, deutsche Lieblichkeit, deutsche Romantik, deutsche Sachlichkeit immer anders sehen werden als die Deutschen selbst, dass sich dahinter und darin und darauf für sie stets in irgendeiner Form Schrecken verbirgt – und sei das Allgemeingut eine Brezel. Gleichzeitig lässt seine schonungslose Direktheit aber auch Sympathie für die deutsche Dinglichkeit, ja sogar für die ihr innewohnende deutsche Seele erkennen. So manche Pretzelman-Arbeit zeugt geradezu von Zärtlichkeit, von Zuneigung, von Hingabe, andere wiederum von Humor, von Einverständnis, von Leichtigkeit.

In dieser Ambivalenz liegt die besondere Stärke von Israelis neuer Werkserie. Sie fasst nicht nur das deutsch-jüdische Trauma mit all seinen verbrecherischen und kulturellen Verflechtungen in ein bizarr verführerisches Narrativ, sondern kann, darf und muss als allgemeingültige künstlerische Auseinandersetzung mit jeglicher Opfer-Täter-Beziehung gelesen werden. Indem Israeli die fast comicartige Figur des Pretzelman zum allgegenwärtigen, nuancen- und facettenreichen Hauptdarsteller seines aberwitzigen, überbordenden, multimedialen Kunst-Spektakels macht, gelingt ihm das, wozu Comic-Figuren geschaffen wurden: Die Banalität und Komplexität menschlicher Existenz gleichzeitig zu veranschaulichen. Pretzelman als Bruder im Geiste von Clark Kent und Peter Parker.

Erez Israeli Galerie Crone
Erez Israeli: „The Straw Manikin (La Marioneta) #2 (Tribute to Francisco Goya)“, 2019, Öl/Lw. © Galerie Crone, Berlin Wien, Foto: Uwe Walter, Berlin

Die popkulturelle Komponente ist kein Zufall in Israelis Schaffen, sie folgt einer großen Faszination und Leidenschaft. Dabei verortet er Populärkultur nicht erst in der Gegenwart, sondern bereits in länger zurückliegenden Epochen. Der Künstler sammelt unablässig historisches Bildmaterial und Erinnerungsstücke; das meiste findet er auf Ebay. So stieß er dort auf drei Zeichnungen von 1943/44. Dem Verkäufer zufolge stammen sie von dem jüdischen Künstler J. Hardtmann, der sich der drohenden Deportation durch Selbstmord entzog. Sonst war nichts in Erfahrung zu bringen. Israeli imitierte Hardtmanns akademische Darstellungen nackter junger Männer und setzte auch ihnen Brezelköpfe auf.

In einer bewegenden Gemäldeserie spürt er dem Schicksal jüdischer Künstlerinnen und Künstler nach, die Hitlers Rassenwahn zum Opfer fielen. Überlieferte Selbstporträts von ihnen – etwa das berühmte Bild des nackt vor der Staffelei sitzenden Felix Nussbaum – malte er nach und verwandelte die Gesichter in Brezeln mit langen Kringel-Enden, die für beklemmende Fratzen mit Doppelnase sorgen. Alle Künstlerinnen und Künstler wurden in Konzentrationslagern ermordet oder kamen auf andere Weise durch den Naziterror ums Leben. Viele sind heute kaum noch bekannt.

Aber auch die Bildpropaganda der Nazis wird der Pretzelman-Methode unterzogen. Unsägliche Schmähzeichnungen der NS-Zeitung „Der Stürmer“, die angeblich typische Juden – „Der Rechtsanwalt“, „Der Künstler“ oder „Der Schnorrer“ – satirisch verunglimpfen, wertet Israeli mit seinen Brezelgesichtern um. Die üblen Karikaturen werden nun ihrerseits karikiert.

Das Land der Täter als altdeutsche Brezelwelt, das rassistische Klischee von der vermeintlichen Physiognomie des Opfervolks, beides vermischt zu einem unverdaulichen Gebräu – ganz bewusst greift Israeli tief ins Arsenal der Vorurteile und Diskriminierungen, um zu demonstrieren, wie toxisch sie noch nachwirken. Wie schauen wir auf die angeblich „Anderen“? Wie unvoreingenommen sind wir tatsächlich? Es ist eine Selbstbefragung des Künstlers, aber auch eine Aufforderung an die Betrachter, sich kritisch mit eigenen Denkmustern zu beschäftigen. Trotz all der Slapstick-Komik, zu der Israeli in seiner Motivkombinatorik greift, herrscht hier bitterer Ernst. Die immer wieder auch heitere Atmosphäre, in der sich der Pretzelman bewegt, ist zugleich so schwer mit Sedimenten der Schuld aufgeladen, dass einem das Schmunzeln schnell vergeht. Die Brezel meint uns alle. Zum Anbeißen sind wir nicht.

(Der Text erschien unter dem Titel „Die Brezel als Wille und Vorstellung“ zuerst im Ausstellungskatalog „Erez Israeli. Pretzelman Begins“, hrsg. von Crone Berlin.)

Erez Israeli Galerie Crone
Erez Israelis ebenso groteske wie beklemmende Markierung eines jüdischen Künstlerschicksals: „Pretzelman as Self-Portrait by Arturo Nathan (Murdered in Biberach Concentration Camp, 1944)“, 2021. © Galerie Crone, Berlin Wien, Foto: Uwe Walter

Service

AUSSTELLUNG

„Erez Israeli. Pretzelman Begins“
Galerie Crone, Berlin
Bis 22. Januar 2022

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Künstlergespräch mit Erez Israeli
in der Galerie, 20. Januar, 18 Uhr

Moderation: Sebastian Preuss,
Senior Editor der Weltkunst

galeriecrone.com

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