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Hans Ulrich Obrist in Athen

Athen zur Documenta und eine Ausstellung von der Künstlerin Maria Lassnig.

Von Christoph Amend
28.04.2017

Herr Obrist, was haben Sie gesehen?
Athen. Ich war zum Auftakt der Documenta dort und weil im Museum der Stadt eine Ausstellung von Maria Lassnig eröffnet wurde, an der ich lange gearbeitet habe.

Sie zeigen Aquarelle von Lassnig, die in Griechenland entstanden sind, und den Titel hat Ihnen die Schriftstellerin Friederike Mayröcker geschenkt: „Die Zukunft erfinden wir …
… mit Fragmenten der Vergangenheit“, genau.

Maria Lassnig ist vor drei Jahren gestorben, Sie kannten sie gut.
Ich bin ihr zum ersten Mal 1986 begegnet. Ich habe damals viele junge Künstler besucht, und sie haben mir alle gesagt, dass sie von Maria Lassnig inspiriert sind. Also habe ich sie in Wien besucht. Wir haben uns über ihre New Yorker Jahre unterhalten, ihre frühen Filme, über Literatur. Die erste Zusammenarbeit fand ein paar Jahre später statt, für die Ausstellung „Der zerbrochene Spiegel“. Schon zu dieser Zeit ist mir aufgefallen, dass sie viel schreibt. Daraus ist das langfristige Projekt „The Pen Is The Sister Of The Brush“ entstanden mit ihren gesammelten Schriften.

2008 folgte eine große Ausstellung mit ihr in der Serpentine Gallery in London.
Ja, mit über 100.000 Besuchern, die britischen Zeitungen haben sie damals auf eine Stufe mit Francis Bacon und Lucian Freud gehoben. Kurz vor ihrem Tod 2014 hatte sie einen letzten Wunsch. Sie ist früher oft als Pauschaltouristin nach Griechenland gereist, und die dort entstandenen Arbeiten sollten einmal in Griechenland gezeigt werden.

Den Wunsch erfüllen Sie ihr.
Ihre Aquarelle stellen mythologische Figuren wie Sisyphos, Aphrodite, Neptun dar, sie werden jetzt weltweit erstmals gezeigt. Es gibt auch Gemälde von ihr in Athen, da können Sie sehen, wie sie dieses mythologische Bilderreservoir zurückträgt nach Österreich.

Wie meinen Sie das?
Es geht in ihren Gemälden immer auch um Selbstporträts. Plötzlich tauchen die mythologischen Gestalten, die sie im Urlaub kennengelernt hat, in der Landschaft Kärntens auf. Griechisches Licht trifft auf das Grün der Landschaft ihrer Heimat. Sie benutzt die Vergangenheit als eine Werkzeugkiste, um die Zukunft zu erfinden. Einmal sieht man sie mit dem Stier von Kreta um ihre Schultern im Meer. Sie geht die sehr männlich dominierte griechische Bilderwelt von ihrem feministischen Standpunkt aus an. Auf einmal steht die Frau sehr bewusst da und ist nicht mehr das schwache Opfer, als das sie oft dargestellt wurde.

Wie war Ihre letzte Begegnung mit Maria Lassnig?
Es sind drei wichtige Dinge passiert. Erstens haben wir die Ausstellung geplant, die jetzt zu sehen ist. Zweitens hat sie mir gesagt, ich müsse unbedingt ihre gute Freundin, die Schriftstellerin Friederike Mayröcker, treffen. Sie hat uns noch einander vorgestellt, und wir sind seitdem miteinander im Gespräch. Immer wenn ich früher nach Wien bin, war das Erste, was ich gemacht habe: direkt vom Flughafen zur Lassnig zu fahren. Heute fahre ich zuerst zu Mayröcker.

Maria Lassnig hat also eine Stabübergabe eingefädelt.
Ja, von einer Legende zur nächsten. Gemeinsam mit der Künstlerin Sarah Ortmeyer führe ich Interviews mit Friederike Mayröcker, acht Mal haben wir sie schon gesprochen, daraus soll ein Buch werden.

Und was ist das Dritte, das bei Ihrem letzten Treffen passiert ist?
Maria Lassnig hat mir einen Brief angekündigt, den sie mir schicken wollte. Dann habe ich nichts mehr von ihr gehört – und einige Monate danach ist sie gestorben. Aber ihr Mitarbeiter hat den unvollendeten Brief an mich gefunden, und er hat ihn mir geschickt.

Was hat sie geschrieben?
Ich kann es Ihnen vorlesen: „Lieber Hans Ulrich Obrist! – Mit der Kunst zusammen, da verkommt man nicht! Ohne Kunst verkommt man und ich besonders. Auch ein sehr lauter Um-Hilfe-Ruf hilft nicht mehr!“

Das ist ja herzzerreißend. Lassen Sie uns den Brief hier abdrucken.
Gerne.

Und zum Schluss wie üblich: Was beschäftigt Sie außerhalb der Kunstwelt?
Ich lese die Gedichte von Friederike May­röcker! Was sonst!

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