Julian Charrière

Das Blau ruft

Der Künstler Julian Charrière taucht in einer spektakulären Ausstellung im Museum Tinguely tief in ozeanische Welten. Er feiert ihre fragile Schönheit und zeigt die Gefahren, die ihnen drohen

Von Christiane Meixner
03.07.2025
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 242

Julian Charrière ist ein Kind der Berge. In seiner Heimat, dem Schweizer Kanton Waadt, erheben sich Les Diablerets, die Teufelshörner, als steiniges Massiv aus Gletschern und Felsen, die zum Klettern geradezu auffordern. Er selbst, erzählt der Künstler in seinem Berliner Atelier, habe jedoch immer schon das Wasser vorgezogen. Eine leichte Einschränkung beim Gehen brachte ihn zum Schwimmen, die Eltern fuhren mit ihm ans Meer – und Charrière verbrachte endlose Stunden darin.

Das hat ihn geprägt. Noch immer scheint der Künstler mehr im arktischen Pazifik oder im Rhein als an Land unterwegs. Dabei erkundet er geografische Zonen, die für andere unzugänglich bleiben. 2016 etwa besuchte er das Bikini-Atoll im Pazifischen Ozean, wo die Amerikaner ab 1946 Atombomben zündeten und ein verseuchtes Paradies hinterließen. In fünfzig Meter Tiefe filmte Charrière vom Militär versenkte Kriegsschiffe, seine Fotografien vom Atoll wirken wie bildgewordene Südseeträume. Doch dann sind da seltsame Flecken auf den Motiven: Sie stammen vom radioaktiven Sand, den er während der Entwicklung auf das Fotopapier legt. Dies hier ist auf unabsehbare Zeit zur No-go-Area geworden.

Kritik an den Folgen menschlicher Interventionen in komplexe Ökosysteme schwingt im Werk von Julian Charrière immer mit, entfaltet ihre Wirkung aber untergründig. Visuell dominiert die Ästhetik. Beispielhaft dafür steht die Fotografie „The Blue Fossil Entropic Stories III“. Mitten im isländischen Meer sieht man den Künstler auf einem Eisberg als winzige Silhouette mit einem Bunsenbrenner in der Hand damit beschäftigt, den gefrorenen Grund abzuschmelzen. Ein bisschen wirkt das Motiv wie Caspar David Friedrich reloaded, vermittelt über die romantischen Anklänge hinaus allerdings eine aktuelle Botschaft: Der Mensch als Klimakiller vernichtet mit seinem Handeln auch die eigenen Lebensgrundlagen.

Die 2013 entstandene Fotografie „The Blue Fossil Entropic Stories III“ machte Julian Charrière bekannt.Sie zeigt, wie er einen Eisberg im isländischen Meer mit dem Bunsenbrenner bearbeitet
Die 2013 entstandene Fotografie „The Blue Fossil Entropic Stories III“ machte Julian Charrière bekannt.Sie zeigt, wie er einen Eisberg im isländischen Meer mit dem Bunsenbrenner bearbeitet © Copyright the artist/VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Das Bild stammt von 2013, Charrière ist damit bekannt geworden. Und obwohl es am Start seiner steilen Karriere vor mehr als einem Jahrzehnt steht und seitdem zahllose neue Projekte entstanden sind, taucht es in seiner jüngsten Soloschau in Basel wieder auf. „Midnight Zone“ im Museum Tinguely kombiniert jüngste Arbeiten mit frühen Werken, die alle um das Thema Wasser kreisen. Es gibt andere spektakuläre Werke des Künstlers wie das Video „Controlled Burn“, in dem es um Flammen als Wärmequelle, die Verbrennung von fossilen Materialien und das Exzessive eines Feuers geht. Oder jene brennenden Brunnen, die in der Medieninstallation „And Beneath It All Flows Liquid Fire“ (2019) aus der Nacht leuchten und im Entree des Museums gezeigt werden. Im Übrigen aber taucht man in der aktuellen Ausstellung in rauschhafte Tiefen, in denen das Licht stetig abnimmt, während sich der Druck auf den Körper mit jedem weiteren Meter verstärkt. Bis man ein Exoskelett, ein mechanisches Gerüst als Außenhülle braucht, um den Kräften von außen überhaupt standzuhalten.

Julian Charrière, Jahrgang 1987, hat viel darüber nachgedacht, wie sich solche Erfahrungen auf dem Trockenen vermitteln lassen. Seine Eindrücke unter Wasser, verbunden mit jenem traumartigen Schwebezustand, wie er sich ebenfalls im Fluiden einstellt. Die Ausstellung „Midnight Zone“, benannt nach einer gleichnamigen, gerade erst entstandenen Videoarbeit, verbindet Skulpturen, Installationen, Fotografien von Apnoetauchern und Filmisches zu einem Parcours, in dem man laufend, sitzend und liegend in eindrucksvolle Unterwasserwelten abtaucht. Optische und akustische Impulse überlagern sich. Glaube niemand, der sagt, im Wasser sei es still: Seine Bewohner geben Töne von sich, jenseits der Oberfläche sorgt nicht zuletzt der Mensch für Geräusche. Beides verebbt erst in zunehmender Tiefe, genau wie das Licht. Gleich der erste Ausstellungsraum von „Midnight Zone“ ist dunkelblau gestrichen, mit jeder weiteren Station verstärkt sich der Anteil schwarzer Pigmente in der Wandfarbe. Am Ende fühlen sich die Besucher von einer ähnlichen Düsternis umspült, wie sie weit unten im nahezu unerforschten Meer herrscht.

Der Künstler Julian Charrière
Der Künstler Julian Charrière © Alma Josepha

Für Charrière ist dieser Ort ein dreidimensionaler Raum, den man sinnlich erfahren kann. Sobald er ihn betritt, spulen sich für den Künstler „Millionen Jahre der Evolutionsgeschichte in zwei Minuten zurück. Vom aufrechten Gang geht es zum Liegen im Wasser, wo der Körper viel spürbarer mit seiner Umgebung verbunden ist als an Land.“ Seit er vor Jahren seinen Tauchschein im Müggelsee, dem größten Berliner Gewässer, gemacht hat – „im März, drei Meter tief in einer braunen Suppe“ –, reflektiert und füllt seine künstlerische Arbeit diese Leerstelle in der menschlichen Wahrnehmung. Die Kunst versteht Charrière als emotionale Brücke: „Obwohl der Ozean 95 Prozent der belebten Fläche der Erde ausmacht, leben wir weiterhin, als ob der Planet am Meeresufer endet. Meine Arbeit geht von dieser Dissonanz aus.“ In seinem Werk ist das Meer nicht länger eine Linie am Horizont wie all die Jahrhunderte zuvor in der Malerei. Sondern ein submarines Ökosystem, das unzähligen Organismen einen Lebensraum bietet und unsere eigene Evolution erzählt.

In der Ausstellung, die von Museumsdirektor Roland Wetzel kuratiert wurde und in Kooperation mit dem Kunstmuseum Wolfsburg entstanden ist, markiert „The Blue Fossil Entropic Stories III“ den Einstieg in dieses maritime Universum. Als klassische Fotografie an der Wand wirkt sie zugleich winzig im Vergleich mit einer Videoarbeit wie „Albedo“, die unter der Meeresoberfläche des arktischen Ozeans zwischen zwei Eisbergen gedreht wurde. Ein immersives Erlebnis, das die Zuschauer unter die Oberfläche zieht und von dort aus andere Perspektiven als die gewohnte ermöglicht: Das Publikum folgt dem Künstler ins Wasser und erlebt es in ständig wechselnden Aggregatzuständen zwischen fest, flüssig und gasförmig. „Du bist nicht länger ein Individuum“, fasst Charrière seine Erfahrungen zusammen, „sondern Teil eines Ganzen, die Strömung nimmt dich mit. Die Farbe ist Substanz, du bist im Blau. Du kannst dich fallen lassen und mitgehen. Du kannst auch ein bisschen dagegenhalten, aber du wirst eins mit diesem grenzenlosen Ökosystem. Das hat eine krasse Auswirkung auf meine Psyche gehabt.“

Auswirkungen hat die Eisschmelze, um die es in „Albedo“ letztlich geht, auch auf die Erde. Bislang funktionierten die Gletscher als Reflektoren, sie warfen die Strahlen der Sonne zurück und beschirmten so das Meer. Die klimatischen Veränderungen sorgen für eine veränderte Situation: In dieser „neuen Welt“, wie der Künstler sie nennt, bahnt sich das Licht seinen Weg in die tiefen, bislang dunklen Schichten des Meeres. Mit welchen Konsequenzen für die dort siedelnden Pflanzen und Lebensformen, weiß kein Mensch. Diesen Übergang, die Transformation des Planeten im Anthropozän, fängt die Kamera kongenial ein. „Albedo“ kennt keine festen Perspektiven, genau wie der Betrachter driftet sie schwerelos durch die Atmosphäre. Alles schwebt, ist instabil und jeglicher Kontrolle entzogen.

Sein Interesse an physikalischen, mit der Natur verbundenen Phänomenen teilt Charrière mit dem zwei Jahrzehnte älteren Ólafur Elíasson, an dessen Institut für Raumexperimente er nach seiner Zeit an der Universität der Künste Berlin studierte. Zusammen mit Andreas Greiner und Julius von Bismarck, die sich aus alter Verbundenheit bis heute ein Atelier teilen. Ihr Flächenbedarf in der ehemaligen Malzfabrik nahe dem Tempelhofer Feld wächst beständig – auch weil alle drei erfolgreich sind und ihre Werke zunehmend anspruchsvoll werden. Julian Charrière hatte Ausstellungen im Palais de Tokyo, im Dallas Museum of Art, in der Kunsthalle Wien, dem Museum of Contemporary Art in Tokio oder der Langen Foundation. Seine Arbeiten waren auf der Kochi-Muziris Biennale in Indien, 2017 auf der Biennale von Venedig und 2023 in der Parcours-Sektion der Art Basel zu sehen. 2016 erhielt er das Kaiserring-Stipendium für junge Kunst, außerdem ist Charrière der erste Preisträger des „Eric and Wendy Schmidt Environment and Art Prize“, der 2024 vom Museum of Contemporary Art in Los Angeles verliehen wurde.

Julian Charrières Serie „Where Waters Meet [3.18 atmospheres]“ von 2019 porträtiert Apnoetaucher im Karibischen Meer
Julian Charrières Serie „Where Waters Meet [3.18 atmospheres]“ von 2019 porträtiert Apnoetaucher im Karibischen Meer © Copyright the artist/VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Ein Video wie „Midnight Zone“ macht nachvollziehbar, weshalb seine Werke überall in der Welt gefragt sind. Sie verbinden künstlerische Sensibilität mit präzisen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Einsicht in die Verletzlichkeit eines Systems, auf das der Mensch immer mehr Einfluss nimmt. Seine Entscheidungen haben weitreichende Auswirkungen, die Charrière erst einmal interessieren. Statt zu urteilen, versucht er die Konsequenzen in Bildern zu fassen. Doch dann gibt es Pläne, die ihn erschüttert zurücklassen. Julian Charrière spricht vom deep-sea mining und hält es für eine der größten Gefahren des 21. Jahrhunderts. Weil sich in rund 4000 Meter Tiefe wertvolle Metalle wie Nickel, Kobalt, Kupfer und Mangan zu Knollen ballen, sollen letztere systematisch abgebaut werden. Dabei sind sie in doppelter Hinsicht wertvoll: Zur materiellen Komponente gesellt sich ihre Bedeutung für das maritime Ökosystem, dessen komplexe Zusammenhänge für uns nicht annähernd nachvollziehbar sind. Was passiert, wenn Roboter die oberste Schicht des Meeresbodens aufsaugen und anschließend zurück ins Wasser pumpen, um die Manganknollen zu „ernten“? Wie wirkt es sich aus, wenn die schwach magnetischen, bis zu 600 Millionen alten Energeispeicher ihren angestammten Ort verlassen? All das ist nicht ansatzweise erforscht.

Darauf bezieht sich „Midnight Zone“. In der sogenannten Mitternachtszone der Tiefsee schwindet die Sicht auf natürliche Weise. Um dies für das Video zu ändern, ließ Charrière eine Fresnellinse – die Linse eines Leuchtturms, die aus der Ferne Orientierung bietet – verkehrt herum ins Meer hinab. Sie dreht sich weiter, verteilt ihr Licht punktförmig im Kreis, macht unergründliche Konturen und Kreaturen sichtbar. Dokumentiert wird ihr Tauchgang dank der Kamera eines ferngesteuerten Tiefseefahrzeugs. Es ist eine Reise in einen Raum, der sich jeder Orientierung entzieht und wo jene polymetallischen Knollen als Objekte der industriellen Begierde inmitten uralter Ökosysteme ruhen.

Auch Julian Charrière kann nicht in die Zukunft schauen. Doch er weiß, dass wir uns besser nicht allein aus Gründen der Rohstoffgewinnung mit dem Thema befassen: „Die Wissenschaft kann die Tiefe kartografieren und vermessen, aber sie kann sie uns nicht spüren lassen“, sagt er. Wichtig sei eine „Kultur der Nähe, die uns emotional und imaginativ mit diesem riesigen Bereich verbindet“. Für ihn ist Kunst dieses Bindeglied. „Sie lädt uns ein, die Tiefe nicht als etwas Abstraktes oder als Ressource wahrzunehmen, sondern als lebendigen Raum, von dem unser eigenes Überleben abhängt.“

Service

Ausstellung

„Midnight Zone“

Museum Tinguely, Basel

bis 2. November 2025

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