Richard Pousette-Dart in Baden-Baden

Dimensionen des Lichts

Unter den Abstrakten Expressionisten nahm Richard Pousette-Dart eine Sonderstellung ein. Erstmals in Deutschland zeigt das Museum Frieder Burda in Baden-Baden sämtliche Facetten seiner hypnotisch wirkenden Kunst

Von Daniel Schreiber
19.05.2025
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 241

Die Zeit verändert, wie wir auf die Bilder schauen. Je länger ihre Entstehung zurückliegt, desto stärker wandelt sich unser Verständnis von ihnen. Manchmal versteht man nach einigen Jahren kaum noch, warum man diesen Künstler oder jene Künstlerin einmal so verehrte. Gelegentlich jedoch hat man den Eindruck, dass man Werke Jahrzehnte nach ihrer Entstehung völlig neu sieht. In diesem Sinne sollte es nicht überraschen, dass Richard Pousette-Dart (1916–1992), der im Kreis der Abstrakten Expressionisten eine Sonderstellung einnimmt, gerade eine Renaissance erfährt. Vielleicht sind wir erst jetzt in der Lage, seine Arbeiten wirklich zu verstehen. Erst jetzt, in dieser unsicheren Ära der Krisen und Bedrohungen.

Als der Sohn der Dichterin Flora Louise Dart und des Kunstschriftstellers Nathaniel Pousette 1935 sein Studium am Bard College in New York abbrach, um seinen eigenen Weg als Künstler zu gehen, konnte niemand ahnen, dass er der Nachwelt einmal ein Werk von überraschender Bandbreite hinterlassen würde. Neben großformatiger, hochauratischer Malerei sind technisch innovative Fotografien darunter, so aufwendige wie filigrane Skulpturen aus gefundenen Materialien, wunderschöne talismanartige Messingplastiken und mehr als 300 grafisch aufwendig gestaltete Notizbücher mit Gedichten, philosophischen Überlegungen und kunsttheoretischen Texten. Noch weniger ließ sich ahnen, dass er sich wie kein anderer Künstler seiner Generation einer nur schwer zu bestimmenden Qualität von Kunst stellen würde: jener kaum zu fassenden Dimension von Präsenz. All dem, was emotional und atmosphärisch zwischen einem Werk und seinen Betrachtenden geschieht. Jener Dimension, die unsere Beziehung zur Kunst so grundlegend bestimmt und sich unserem Verstehen dennoch immer wieder entzieht.

Richard Pousette-Dart, um 1957/58 in seinem Atelier in Monsey fotografiert © Arthur Shriftman
Richard Pousette-Dart, um 1957/58 in seinem Atelier in Monsey fotografiert © Arthur Shriftman

Mit einer Weitsicht, die für junge Kunstschaffende ungewöhnlich ist, machte sich Pousette-Dart schon früh daran, diese Dimension zu erforschen. Inspiriert von der Idee der „signifikanten Form“, die der britische Kunsttheoretiker Clive Bell geprägt hatte, erkundete er unter anderem die Frage, warum elementare Grundformen wie Kreise, Kreuze, Spiralen, Wellen oder Wirbel in fast allen Kulturen der Welt auftauchen und häufig als spirituelle Symbole dienen. Dies tat er mit einer spielerischen, fast heiteren Leichtigkeit, die vor der Folie der amerikanischen Malerei der Dreißigerjahre heraussticht. In der großen Pergament-Arbeit „Unter dem Meer“ von 1939 etwa tummeln sich zahlreiche abstrahierte animistische Formen innerhalb eines strengen Quadrats, die alle ihren eigenen inneren Bewegungsimpulsen zu folgen scheinen. Sie erinnern an Wimpertierchen, Amöben, Schnecken und Muscheln, an Pflanzenteile, einzellige Dinoflagellaten oder andere Kleinstlebewesen. Oder sind sie in einem Schub malerischer Lust frei erfunden? Diese Lust zeigt sich auch in dem komplexen Farbauftrag von Tusche und Öl. Aufgrund der auf kleinstem Raum nebeneinanderstehenden flirrenden Grün-, Gelb-, Blau- und Rottöne kann sich das Auge kaum entscheiden, welche Farbe es sieht. Das soghafte Schimmern der Arbeit führt zu einem inneren Leuchten. Diese Arbeit hat etwas zutiefst Lebendiges. Man kann sich nicht an ihr sattsehen. Die in ihr greifbar werdende malerische Lust und die Weiterentwicklung der charakteristischen Formensprache verlangte bald nach mehr Raum. Obwohl Pousette-Darts Wohnung in der Upper East Side klein war, wandte er sich immer größeren Leinwänden zu, wie es später auch Zeitgenossen wie Jackson Pollock, Mark Rothko, Willem de Kooning, Lee Krasner, Barnett Newman oder Clyfford Still tun sollten. Sein Bild „Wellenbewegung“ von 1941/42 ist fast anderthalb Meter hoch und zweieinhalb Meter breit, seine zur selben Zeit entstandene „Sinfonie Nr. 1, die Transzendentale“, die heute zur Sammlung des Metropolitan Museum gehört, ist fast dreieinhalb Meter breit, eine zu jener Zeit geradezu unerhörte Größe für abstrakte Malerei.

Ein Notizbuch mit Rorschach-Test aus den Fifties © The Richard Pousette-Dart Foundation
Ein Notizbuch mit Rorschach-Test aus den Fifties © The Richard Pousette-Dart Foundation

Als die New Yorker Artists’ Gallery Pousette-Dart 1941 zum ersten Mal eine Einzelausstellung widmete, war er gerade mal 25 Jahre alt. Er stellte in Peggy Guggenheims Galerie Art of This Century, in der 67 Gallery, der Willard Gallery und der Betty Parsons Gallery aus. Er war auf den Jahresausstellungen des Whitney Museum und des Art Institute of Chicago vertreten, und das MoMA kaufte bereits 1950 eines seiner Werke. Von der Kunstkritik und populären Magazinen wie Life wurde er zu den Protagonisten der sogenannten New York School gezählt, die damals die Kunstwelt revolutionierte. In der ersten Generation der Abstrakten Expressionisten war er der jüngste Künstler.

Dennoch war Pousette-Darts Zugehörigkeit zu dieser Bewegung von Anfang an eher nominal. Zwar tauschte er sich mit seinen Kolleginnen und Kollegen aus, doch er selbst lehnte alle Schulen, Ismen oder Glaubensbekenntnisse kategorisch ab. Der stille Künstler, der für seine pazifistischen Überzeugungen bekannt war, vegetarisch lebte, Alkohol und große Auftritte mied, schien zudem schon charakterlich kaum in die Macho-Kultur zu passen, die diese Bewegung prägte. Auch malerisch verband ihn weniger mit ihr, als sich auf den ersten Blick vermuten lässt. Und noch viel weniger passt das ernsthafte spirituelle Projekt des Künstlers dazu, das er mit Lektüren von Mystikern wie Jakob Böhme, George Santayana, Daisetz Teitaro Suzuki oder Laotse verfolgte.

Die leitende Kraft von Pousette-Darts künstlerischem Universum war innere Freiheit. Als er und seine Familie 1950 eine Wohnung suchen mussten, weil ihr altes Gebäude in Manhattan abgerissen wurde, zogen sie aufs Land, erst nach Sloatsburg, dann nach Monsey und später nach Suffern, alle im Bundesstaat New York. Hier, wo der Künstler bis zum Ende seines Lebens wohnte, arbeitete und Besuch aus der Stadt wie Mark Rothko empfing, eröffneten sich neue Möglichkeiten. In der Abgeschiedenheit dieser Orte richtete er sich große Ateliers ein. Hier hatte er genug Raum für seine Kunst – und auch mehr Zeit. Ob er geduldig seine auratischen Messingobjekte polierte, akribisch Fotos doppelbelichtete und retuschierte oder sich, manch- mal jahrelang, einzelnen malerischen Arbeiten widmete: Jedes von ihm produzierte Objekt sollte mit einem eigenen Leben gefüllt sein, ein eigenes Dasein und eine eigene Stimme haben. Er selbst beschrieb dieses in letzter Instanz unmögliche Vorhaben so: „Die Kunst liegt hinter dem Stoff des Äußeren, sie reicht stets weiter in die Tiefe, als es scheint, und will in dieser Tiefe erforscht werden. Sie ist ein Widerschein des Seins, (…) ein Tor zur Befreiung.“

Tiefenarbeit braucht nicht nur Zeit, sie folgt auch einer ganz eigenen temporalen Logik. Pousette-Dart arbeitete immer gleichzeitig an mehreren Werken. Die langen Zeiträume, die er benötigte, um sie fertigzustellen, waren Teil des künstlerischen Projekts. Kaum ein Maler dürfte sich schwerer damit getan haben, ein Werk als fertig zu betrachten. Obsessiv kehrte er immer wieder zu seinen Arbeiten zurück. So lange, bis er spürte, dass sie seinen Ansprüchen an Präsenz genügten. Oftmals führen unter der Bildoberfläche zwanzig bis dreißig akribisch aufgetragene Farbschichten ein Eigenleben. Man könnte meinen, dass sie die entstehenden Werke schwerer machten. Doch vielmehr schenkten sie ihnen ein eigentümliches Leuchten. Eine originäre Affekt-Tiefe, die sich nur erschließen lässt, wenn man persönlich vor ihnen steht. Eine eigene Präsenz eben.

In der Abgeschiedenheit von Upstate New York sollten in den nächsten Jahrzehnten unterschiedliche malerische Werkgruppen entstehen, die Pousette-Darts präsentisches, spirituelles Projekt mit jeweils einer eigenen Formensprache angingen. Die langen Zeiträume ihrer Fertigstellung machen es allerdings schwer, sie in einzelne Phasen einzuteilen. Oft stellte der Künstler innerhalb weniger Wochen Arbeiten fertig, die unterschiedlicher kaum hätten sein könnten.

Zu diesen Werkgruppen gehören die sogenannten „Weißen Gemälde“, für die er mit Ölfarbe und Bleistift filigrane Landschaften auf monumentalen Leinwänden schuf, die für die Betrachtenden den Charakter einer sphärischen Erscheinung haben. Auf weißem, mehrmals übermaltem Untergrund treten etwa im fast anderthalb mal zweieinhalb Meter großen „Chavade“ von 1951 zarte gezeichnete Formen hervor – jene „signifikanten Formen“ von Kreisen, Kreuzen, Spiralen, Wellen oder Wirbeln – und verschwinden scheinbar wieder. Man kann nicht sagen, wo sie beginnen und wo sie enden, wie viele Bleistiftstriche nötig waren, um sie zu erschaffen, wie viele Ausradierungen. Zunächst kaum wahrnehmbare Spuren blauer, gelber und roter Farbe lassen an Mauern oder Wände denken, auf denen alte Farbaufträge stellenweise durch neue Farbschichten hindurchleuchten. Es ist ein Werk wie ein jahrhundertealtes Palimpsest, immer wieder neu übermalt, immer wieder neu überschrieben.

Richard Pousette-Dart, „Chavade“, 1951 © The Richard Pousette-Dart Estate/VG Bild-Kunst, Bonn 2025; Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florenz
Richard Pousette-Dart, „Chavade“, 1951 © The Richard Pousette-Dart Estate/VG Bild-Kunst, Bonn 2025; Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florenz

Während die „Weißen Gemälde“ weitgehend auf Farbwerte verzichten, stehen Letztere in den „Illuminationen“ und „Fenstern“ des Künstlers im Zentrum. Auch hier wurden unzählige Farbschichten übereinander aufgetragen, häufig in einer quasi-pointillistischen Tupftechnik, die sich im Laufe der Jahre mehr und mehr zum Hauptstilmittel von Pousette-Darts Arbeiten entwickelte. Jede dieser Einzelmarkierungen ist mit großer Sorgfalt gesetzt und jede der Farbschichten, die unter der Oberfläche liegen, trägt zur malerischen und sinnlichen Qualität der Arbeiten bei. Und auch hier, etwa in der Arbeit „Illumination vertikal“ von 1958, kann man an mittelalterliche Manuskripte denken, an Buchmalerei, die oft ein ähnliches Leuchten auszeichnet wie diese Bilder. In anderen Werken verneigte sich der Künstler vor den farbig leuchtenden Fenstern gotischer Kathedralen, ahmte in freier Assoziation ihre Farben nach, abstrahierte ihre Formen und zielte auf ihr auratisches Licht.

Neben weiteren Werkgruppen, in denen sich Pousette-Dart nur auf schwarze und weiße Acrylfarbe konzentrierte oder in denen er mit Öl und Grafit fast grafisch riesige Holzplatten bearbeitete, sind vor allem seine kosmologischen Werke hervorzuheben. Das spirituelle Projekt des Künstlers fand hier auch eine thematische Verarbeitung. In „Feier der Geburt“ von 1975/76 etwa erstrahlt auf einer über drei Meter breiten Leinwand ein Himmel mit Abertausenden malerischen Einzelmarkierungen in Blau, Rot, Gelb und Grün. In einem fernen Echo jener „signifikanten Formen“ verdichten sie sich zu Kreisen, Wellen und Spiralen, nur um sich wieder aufzulösen. Manchmal glaubt man, so etwas wie einen sternenreichen Nachthimmel, das Weltall oder die Milchstraße darin zu erkennen, nur um diesen Gedanken wieder zu verwerfen und mit einem lang anhaltendem Staunen zurückzubleiben.

Richard Pousette-Dart, „Feier der Geburt“ (Detail), 1975/76 © The Richard Pousette-Dart Estate/VG Bild-Kunst, Bonn 2025; Privatsammlung
Richard Pousette-Dart, „Feier der Geburt“ (Detail), 1975/76 © The Richard Pousette-Dart Estate/VG Bild-Kunst, Bonn 2025; Privatsammlung

Den beeindruckenden Arbeiten dieser kosmologischen Werkgruppe – „Meditation über dahintreibende Sterne“ von 1962/63 gehört dazu oder „Hieroglyphe Nummer 7“ – wird man weder mit Fotos noch mit Worten gerecht. Es sind Bilder, die zu pulsieren, zu expandieren und zu konvergieren scheinen. Bilder mit einem radikal hypnotischen Effekt, für die man seinen Blick und seine Entfernung zur Leinwand immer wieder neu justieren muss. Die ihre Betrachtenden im Begehren, mehr und wieder zu sehen, in Bewegung setzen und fast schon tänzeln lassen und für ein Seherlebnis sorgen, das auf ähnliche Weise andauert wie das Hören von Musik. Bilder, die mit allen Dimensionen des Lichts spielen, mit seiner emotionalen und psychischen Wirkung, mit seiner irisierenden Reflexionsfähigkeit, mit seinem Schimmern, seinem Glanz und seinem Strahlen, mit seiner Fähigkeit, ungeahnte Energien freizusetzen. Es sind sphärische Harmonien, die so emotional sind, dass man sich ihnen kaum entziehen kann. Es sind Bilder, in denen man sich verliert.

In einem Vortrag, den er 1951 vor Studierenden in Boston hielt, sagte Pousette-Dart: „Gemälde lassen sich nicht erklären, sie haben ein eigenes Leben, ein eigenes Dasein und eine eigene Stimme, sie müssen individuell erfahren werden. Wir müssen sie aufsuchen und anschauen, dann finden wir in ihnen den Widerschein unserer eigenen Erfahrung und ziehen daraus Inspiration für unser eigenes Wachsen.“ Vielleicht gehören diese Sätze zum Klügsten, was je über Kunst geschrieben wurde. In ihnen wird deutlich, dass Kunst auch eine spirituelle Erfahrung sein kann, ein transformativer Prozess. In ihnen wird deutlich, was Kunst mit uns machen kann. Vielleicht ist nie jemand ernsthafter das Projekt angegangen, mithilfe von Kunst einfache Antworten zu transzendieren und das Verborgene, das Unsichtbare sichtbar machen. Das Projekt, Energien zu übertragen und Emotionen auszulösen. Empathie und Verbundenheit zu stiften, in einer Welt, die davon zu wenig kennt. Und vielleicht entdecken wir Pousette-Dart gerade jetzt wieder, in finster wirkenden Zeiten wie diesen, weil wir seine Botschaft mehr denn je brauchen.

Service

Ausstellung

„Poesie des Lichts“ – Richard Pousette-Dart

Museum Frieder Burda, Baden-Baden

17. Mai bis 14. September 2025

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