Vor 140 Jahren zerteilte die Kongokonferenz den afrikanischen Kontinent. Eine hochkarätige Ausstellung in der Völklinger Hütte widmet sich den Verbrechen der Kolonialgeschichte und ändert die Blickrichtung – mit den Mitteln der Kunst
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24.02.2025
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 237
Staub, roter Staub, er war überall: auf den Straßen, auf den Häusern. Und wenn jemand gerade Wäsche gewaschen hatte und sie nicht schnell genug von der Leine nahm, dann war er auch auf den Hemden und Hosen. Der Staub kam aus dem Stahlwerk – und so war die Völklinger Hütte der große Versorger der Stadt, aber auch der große Verschmutzer. Die Völklinger Hütte, seit dreißig Jahren UNESCO-Weltkulturerbe, ist ein Symbol für die Industrialisierung Europas. Auf alten Fotos sah die in Windhoek lebende Künstlerin Memory Biwa, wie Völklingen in roten Staub gehüllt war, wenn das Erz im Werk verhüttet wurde, um aus dem flüssigen Eisen Brücken, Wehrhelme und Bahnschienen zu fertigen.
Auch in Biwas Heimat Namibia gibt es diesen Sand. Die rot- schimmernden Wüsten, die Kalahari und Namib, verteilen ihn Hunderte Kilometer weit. Und auch sie kennt man aus Reiseprospekten und Fotobüchern: die roten Frauen der Himba, fremd, aber auch pittoresk anzusehen, Stereotype des Tourismus. Menschen dieser halbnomadischen Volksgruppe reiben ihre Haut und Haare mit einem Gemisch aus Butterfett und natürlichem Ocker ein, um sich vor der Sonne zu schützen. Das darin enthaltene Eisenoxid färbt sie so rot wie die Wüste – oder wie die Straßen in Völklingen, bis das Hüttenwerk 1986 geschlossen wurde. Es ist aber nicht nur der rote Staub, der Namibia mit dieser Stadt verbindet.
„In der Ausstellung“ ,The True Size of Africa‘ setzen wir uns exemplarisch für Deutschland mit der Geschichte des Saarlandes auseinander“, erklärt Ralf Beil, der Generaldirektor des Weltkulturerbes Völklinger Hütte und Kurator der Schau. Die Gründer und ehemaligen Besitzer der Völklinger Hütte, die Industriellenfamilie Röchling, waren Kriegsverbrecher und Kriegsgewinner, allen voran Hermann Röchling. Als Vertrauter Adolf Hitlers beschäftigte er im Zweiten Weltkrieg Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter unter verheerenden Bedingungen, entwickelte Militärtechnik und produzierte Geschütze. Der erste Teil der Ausstellung, das „Museum of Memorability“, zeigt Artefakte aus dieser Zeit und bettet sie in den Kontext der Geschichte ein.
So liegt hier eine Ausgabe der Zeitung „Der Völklinger Hüttenmann“ von 1937 aus, die die deutsche Kolonialfrage aus der damaligen katastrophalen Sicht beantwortet, und ein Plakat von 1913, das für die „erste große Kolonialausstellung in Saarbrücken“ wirbt. Daneben wird die Statue eines Kolonialherren gezeigt – und ein Video, das dokumentiert, wie solche Denkmäler heute überall auf der Welt gestürzt werden. „Es ist nicht förderlich“, sagt Beil, „diese Dinge unter den Teppich zu kehren“. Man müsse sie aussprechen, aber es komme auf die Art und Weise an. „Die Statue haben wir aus Hamburg verschnürt mit Spanngurten in einer Transportkiste geliefert bekommen. Ich dachte sofort: Genau so müssen wir sie zeigen – liegend, beschmiert, halb verpackt und mit Seilen verzurrt“.
Um das Ausstellungszentrum in der ehemaligen Gebläsehalle zu erreichen, führt der Weg auf einem Metallsteg durch das Pumpenhaus. So wandeln die Besucherinnen und Besucher über die ehemaligen Maschinen. Dazwischen befinden sich Lautsprecher. Gesang ist zu hören, Männerstimmen. Im Raum verbinden sie sich zu einem Chor. Für die Soundinstallation „The Land Remembers“ nahm der aus Nigeria stammende Künstler Emeka Ogboh 2024 eine neue Version der Bergbauhymne „Steigerlied“ auf – mit einem namibischen Männerchor. In Oshiwambo besingt der nun statt der Kameradschaft der deutschen Bergleute die koloniale Ausbeutung von Menschen in Afrika. Die Übersetzung des Textes kann man später nachlesen, dort ist auch ein Film von den Chorproben zu sehen.
Die Ausstellung hat keinen festen Rundgang. Man kann sich intuitiv durch die riesige Gebläsehalle leiten lassen, vorbei an den massiven Rädern und Gerätschaften, die seit über sechzig Jahren stillstehen. Kurator Beil nennt es ein „Erwandern der Ausstellung“. Zum Navigieren hilft der kostenlose Audioguide, der nur in die Nähe eines Exponats gehalten werden muss und dann von selbst den Ton zu Videos abspielt, Zusammenhänge erklärt. Hinter jedem Ausstellungsbeitrag – historisch oder modern – stecken multiple kulturelle Bedeutungen und geschichtliche Referenzen. Die Menge an Eindrücken und Informationen kann einen überfordern, aber die unterschiedlichen Darstellungsformen in Sound, Film, Interaktivem und Text regen auch die Konzentration an. Die Dauerausstellung zur Geschichte der Völklinger Hütte fügt sich hervorragend in den Kontext von „The True Size of Africa“ und der lange Spaziergang durch die beeindruckende Hüttenanlage verdeutlicht deren wirtschaftliche Relevanz – und die historische Verantwortung, die damit einhergeht.
Ihm sei wichtig gewesen, sagt Beil, nicht nur Kunst zu präsentieren, sondern das Thema der Schau mit Leben zu füllen. Auch wenn das nicht unbedingt angenehm sei. Noch immer gibt es in der Stadt Völklingen eine Siedlung, deren Straßen nach Kolonialherren benannt sind. 2021 wurde ein Antrag zur Umbenennung mit einem Bürgerentscheid abgelehnt. Das Museum veranstaltet nun Diskussionsrunden, um sie doch noch durchzusetzen. Umdeutung ist der Begriff, der sich an vielen Stellen der Ausstellung aufdrängt. So generierte die Künstlerin Susana Pilar Delahante Matienzo aus Kuba mithilfe von künstlicher Intelligenz „historische“ Fotos, die zeigen, wie schwarze Frauen in Europa, Afrika und Amerika hätten leben können, wären sie nicht versklavt und unterdrückt worden. Auf einem Bild tragen sie prachtvolle viktorianische Kleider und große Hüte, auf einem anderen sitzen sie in ausgelassener Stimmung in einem Palmengarten. Die Fotos von Delahante Matienzos Werkkomplex „Achievement“ liegen lose auf alten Schreibtischen, können in die Hand genommen und aus der Nähe betrachtet werden.
Der Umdeutung verpflichtet sind auch die Selbstporträts von Zanele Muholi aus Südafrika und von dem Senegalesen Omar Victor Diop, beide international gefeierte Stars der Kunstszene. Diop inszeniert sich für die Werkserien „Diaspora“ von 2014 und „Liberty“ von 2016/2017 entweder als bedeutende Persönlichkeit der Geschichte oder als Figur des schwarzen Freiheitskampfes. Die nicht-binäre Person Muholi thematisiert in „Somnyama Ngonyama“ die Exotisierung von Frauen und Männern aus afrikanischen Ländern: Muholi fotografiert sich mit Alltagsgegenständen wie Zahnpasta, Wäscheklammern und Hockern. Wie Muholi sich diese Objekte aufsetzt, an den Körper hält, macht sie zu rituell anmutenden Mitteln des Selbstausdrucks. Und sie betonen andererseits das Verbindende zwischen den Menschen über Kontinente hinweg.
Ralf Beil ist sich bewusst, dass das Museumsteam zu großen Teilen aus weißen Menschen besteht. Daher hat er mit afrikanischen oder afrikanischstämmigen Künstlerinnen und Künstlern und dem Käte Hamburger Kolleg für kulturelle Praktiken der Reparation CURE der Universität des Saarlandes zusammengearbeitet, um die Ausstellung zu konzipieren. „Man muss nicht schwarz sein, um sich mit Afrika befassen zu können. Wir, als deutsche Institution, sollten nicht davor zurückschrecken, die eigenen Verbrechen aufzuarbeiten und aktiv den Austausch mit Afrikaner:innen zu suchen, denn es geht doch um Brückenschläge“, erklärt Beil. Schon am Eingang nimmt man deshalb den Titel „The True Size of Africa“ wörtlich. Eine digitale Weltkarte illustriert, dass der afrikanische Kontinent in Wirklichkeit um ein Vielfaches größer ist als auf den gängigen Karten dargestellt.
Wenn man die Oberfläche des Globus auf ein Blatt Papier überträgt, so werden die Bereiche nahe an Nord- und Südpol normalerweise gedehnt. Am Äquator, also in Afrika, Südamerika und Indonesien entsprechen die Proportionen der geografischen Realität, wohingegen die Länder, je weiter sie im Norden oder Süden liegen, stets größer wirken. In Wahrheit passen in den afrikanischen Kontinent mit seinen 30 Millionen Quadratmetern die USA, China, Indien, Japan, Mexiko und ganz Europa. Beil sagt, das sei auch einigen in seinem Museum neu gewesen. Und genau darum gehe es: Informationen aufbereiten, sie mithilfe von multimedialer Kunst zugänglich machen und damit ein Bewusstsein in der Gesellschaft schaffen.
Die Kolonialverbrechen, die Deutschland auf dem afrikanischen Kontinent begangen hat, sind irreparabel. Es ist an der Gegenwart, einen Umgang mit dieser Schuld zu finden. Beim Käte Hamburger Kolleg ist man der Auffassung, dass, sobald etwas nicht mit Geld wiedergutzumachen ist, kulturelle Reparationen ins Spiel kommen sollten. Durch Kunst können Begegnungen stattfinden, Dialoge entstehen. Und man kann der florierenden afrikanischen Kultur Räume zur Selbstdarstellung und Anerkennung geben.
Eine Umdeutung erfahren auch jene Masken und Holzskulpturen, die das Museum für „The True Size of Africa“ aus Privatsammlungen entliehen hat. Sie werden nicht nur wie üblich gezeigt, sondern in einen Kontext eingebettet. Die Figuren stehen in einem Kreis, als würden sie miteinander sprechen. Oder sie befinden sich in Vintage-Vitrinen, die von sich aus eine Aura von Geschichtlichkeit schaffen. So oder so huldigen sie der Handwerkskunst und Erhaltung von Kulturgütern. Besonders viel Platz wird in der Völklinger Hütte dem Künstler Roméo Mivekannin und seinem 2020 entstandenen Werk „The Souls of Black Folk“ eingeräumt. Von der metallverstrebten Decke der Gebläsehalle hängen 68 Porträts berühmter schwarzer Personen. Da sind unter anderen Kamala Harris, Alicia Keys, Barack und Michelle Obama, Josephine Baker und Malcolm X, sie und noch viele andere malte Mivekannin mit schwarzer Acrylfarbe auf Stoffe, die zuvor mit Seiten des Buchs bedruckt wurden, das namensgebend für seine Installation war – „Die Seelen der Schwarzen“ des US-amerikanischen Historikers und Soziologen W. E. B. Du Bois aus dem Jahr 1903. Es ist eine imposante Ahnengalerie der Mütter und Väter des Kampfes gegen Rassismus und für die Rechte schwarzer Amerikanerinnen und Amerikaner, der bis heute geführt werden muss.
Memory Biwas’ Installation „Ozerandu“ (auf Otjiherero das Wort für die Farbe Rot) befindet sich im Keller der Gebläsehalle. Steigt man die Metalltreppe hinab, sinkt die Temperatur spürbar, und die Luft wird feucht. Der Raum ist lediglich von wenigen Lampen erhellt, in deren warmgetönten Lichtkegeln Schalen mit rotem Sand stehen. Man erkennt Fingerspuren, in unregelmäßigen Abständen liegen dort auch Erzkuchen verschiedener Form und Größe verteilt. Biwa ist neben ihrer Arbeit als Künstlerin auch Historikerin. Ihre Forschung befasst sich mit antikolonialem Widerstand, dem von den Deutschen begangenen Völkermord in Namibia und den Prozessen von Erinnerung und Wiedergutmachung. Sie schuf auch eine Soundinstallation aus Umweltgeräuschen und Gesprächsfetzen, die sie am Computer mit Tondateien kombinierte, welche sie während ihres Aufenthalts im Saarland einfing. Der metallisch brummende Klangteppich, der daraus entstand, vermischt sich mit der schummrigen Beleuchtung und der Feuchtigkeit des Raumes zu einer bedrohlichen und doch vertrauten Atmosphäre.
„The True Size of Africa“ erinnert auch an die sogenannte Kongokonferenz. 1884–85 beschlossen die europäischen Mächte in Berlin die Aufteilung des afrikanischen Kontinents in Kolonien. In den Jahrzehnten, die folgten, begingen die Deutschen in ihren angeblichen „Schutzgebieten“ nicht nur massenweise Mord und Totschlag, sie beuteten die Länder auch nach Kräften aus – speziell bei Rohstoffen. Das Eisenerz wurde zur Verhüttung nach Deutschland transportiert.
Der rote Staub, den die Künstlerin Biwa auf alten Bildern von Völklingen sah, stammte also womöglich aus ihrer Heimat. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man beim Verlassen des Kellers an das Treppengeländer fasst und den gleichen Staub an den eigenen Händen bemerkt. Und man fragt sich: War dies das erste Mal, dass sich die Wege des roten Staubes und der eigenen Geschichte gekreuzt haben?
„The True Size of Africa“,
Völklinger Hütte,
Völklingen,
bis 17. August