Alte Pinakothek

Das pralle Leben

An Rachel Ruyschs Stillleben kann man sich nicht sattsehen. Erstmals ist die Amsterdamer Malerin jetzt in einer großen Schau zu erleben. Die Pinakothek taucht ein in eine Welt zwischen Kunst und Naturwissenschaft

Von Christa Sigg
21.11.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 233

Sie war brillant. Aber das reicht ja bekanntlich nicht aus, um tatsächlich Künstlerin zu werden und gleich noch berühmt und erfolgreich. Bei Rachel Ruysch hat sich alles fantastisch gefügt, und bemüht man eine astrologische Metapher, müssen bei ihrer Geburt im Jahr 1664 die Glückssterne Spalier gestanden haben. Fortuna gleich mit dazu. Als die Malerin schon auf die sechzig zuging und vom Verkauf ihrer Blumenstillleben vorzüglich leben konnte, zog sie auch noch bei einer Lotterie das große Los. Mit ihrem Mann gewann Ruysch sagenhafte 75.000 Gulden. Nur zum Vergleich: Zu Lebzeiten lag ihr teuerstes Bilderpaar bei 1300 Gulden, damit war sie ein ganzes Jahr beschäftigt.

Das klingt so verrückt wie märchenhaft, doch man darf nicht vergessen, dass Rachel Ruysch ein Leben lang viel gearbeitet hat und selbst im hohen Alter von 84 Jahren bald täglich an der Staffelei saß. So beschreibt es ihr erster Biograf Johan van Gool, der Ruysch 1749, im Jahr vor ihrem Tod, besuchte und in seinem Buch der „Nederlantsche kunstschilders en schilderessen“ davon schwärmt, dass sie „ihren Geist und ihr Aussehen wunderbar bewahrt“ habe. Madame war ein Star, als Kunstheldin wurde sie längst nicht nur in ihrer Heimat bejubelt. Doch bei aller Virtuosität schwingt in einem calvinistisch geprägten Land immer auch die außergewöhnliche Leistung mit.

Wahrscheinlich war dieses unaufhörliche Tun und Machen nicht einmal etwas Besonderes für Ruysch. Sie wuchs in einem Haushalt auf, in dem von früh bis spät Besuch ein und aus ging, und vor allem mit einem Vater, der mehrere Jobs ausübte. Frederik Ruysch war ein angesehener Anatom und Botaniker und wurde durch seine Kenntnisse auf beiden Gebieten mit vielen Ämtern bedacht. Die Amsterdamer Chirurgengilde ernannte ihn 1666, mit gerade mal 28 Jahren, zum Prälektor für Anatomie. Gut zehn Jahre zuvor übte noch der von Rembrandt verewigte Doktor Tulp dieses Amt aus, und es gibt von Ruysch ein vergleichbares Porträt mit der Sektion eines Kleinkinds. Der universal begabte Wissenschaftler machte sich aber auch durch neue Methoden der Präparierung und das mustergültige Einbalsamieren von Körperteilen einen Namen.

Rachel Ruysch, „Blumenstrauß“ von 1708
Rachel Ruysch, „Blumenstrauß“ von 1708. © Sibylle Forster/Bayerische Staatsgemäldesammlungen - Alte Pinakothek München

Zimperlich durfte man im Hause Ruysch an der Bloemgracht nicht sein, es muss wie in Frankensteins Labor ausgesehen haben. Überall standen Gläser mit Feuchtpräparaten, dazu kamen Unmengen seltener Insekten und Pflanzen sowie Dioramen mit kleinen Skeletten. Ruysch inszenierte allegorische Szenen zwischen Hügellandschaften aus Nierensteinen und Bäumen aus kunstvoll konservierten Blutgefäßen. Aus heutiger Sicht ein Gruselkabinett, doch die Menschen des erkundungsbegierigen 17. Jahrhunderts fühlten sich von dieser Wunderkammer der bizarren Art stark angezogen, und so wurde das „Museum Anatomicum Ruyschianum“ gleich nach der Eröffnung 1671 zur Touristenattraktion. In diesem geistvollen Durcheinander und trotz seiner zahlreichen Posten scheint Frederik Ruysch dennoch ein zugewandter Vater gewesen zu sein. Seine älteste Tochter Rachel ermunterte er früh schon, nach der Natur zu zeichnen, und die Kleine muss ausnehmend rasch gelernt haben. Das Künstlerische lag in der Familie: Pieter Post, Rachels Großvater mütterlicherseits, war als Architekt am Bau des Mauritshuis in Den Haag beteiligt. Dessen Bruder Frans hatte den Niederländern die tropischen Paradiesbilder Brasiliens und Südamerikas nahegebracht – und das sind nur zwei Vertreter aus dieser durchweg talentierten Verwandtschaft. Kunst und Kunstschaffen gehörten über Generationen zum Alltag. Ein junges Mädchen allerdings bei einem der bekanntesten Maler Amsterdams in die teure Lehre zu geben, spricht für die liberale, unkonventionelle Einstellung Frederik Ruyschs. Zumal Willem van Aelst auch Rachels jüngere Schwester Anna ausbildet.

Mit den Interessen der Ruyschs geht das gut zusammen, van Aelst malt Blumenstillleben mit einer gewissen Noblesse. Seine Rosen und Schwertlilien, die gestreiften Nelken und den Schlafmohn verbindet er mit kostbaren Accessoires, das findet bei einer betuchten Käuferschicht Anklang. Für Rachel ist es eher das wie zufällig wirkende Arrangieren weniger Blumen in einer Diagonalen, das sie sich abschaut. Genauso die kompositorische Balance zwischen grün dominierten Blättern und farbintensiven Blüten und Früchten. In ihre anfangs noch etwas starren Bouquets kommt schnell mehr Schwung, doch bei aller Orientierung am Meister geht seine Schülerin bald ihren eigenen Weg. Bereits mit 17 signiert sie selbstgewiss jedes einzelne Bild.

Experimentierfreudig weitet Ruysch van Aelsts Blumenrepertoire, steigert den Einsatz von auflockernden Gräsern und Kräutern, und sie bringt Schnecken, Käfer und vor allem exotische Pflanzen auf die Leinwand. Rachel braucht sich zu Hause nur umzusehen, dort gibt es vieles, das für andere Künstler mühsam zu beschaffen ist oder gar nicht erst zur Verfügung steht. Zudem wird ihr Vater 1685 auch noch Direktor des Botanischen Gartens Hortus Medicus Amstelodamensis. Dadurch hat sie Zugang zu sämtlichen Pflanzenimporten aus den überwiegend tropischen Kolonien.

Maria Sibylla Merian, aus dem Buch „Metamorphosis insectorum Surinamensium“ von 1705
Maria Sibylla Merian, aus dem Buch „Metamorphosis insectorum Surinamensium“ von 1705. © Bayerische Staatsbibliothek/CC BY-NC-SA 4.0

Frederik Ruysch erstand außerdem die umfangreiche Schmetterlingssammlung seines engen Freundes Otto Marseus van Schrieck. Der „Snuffelaer“, also Schnüffler genannte Maler, war immer auf der Suche nach auffälligen Insekten und kleinen Reptilien für seine überbordenden Waldstillleben. Auch diese Bilder sind Rachel vertraut, in ihrer Frühphase arbeitet sie sogar wie van Schrieck mit der seinerzeit angesagten Contre-épreuve- oder Abklatsch-Technik. Dabei wird das echte Insekt auf die Leinwand geklebt und wieder abgezogen. Die Schuppen der Flügel bleiben haften – am Doerner Institut sind selbst in späteren Werken Relikte ausgemacht worden. Freilich ist die Technik mehr Show, als dass sie einen wirklichen Effekt hat. In der Natur entstehen die Farbtöne durch Lichtreflexe auf der Oberfläche der Flügel. Aber das Prozedere passt auch wieder zu einer Kunst, die sich bis ins kleinste Detail an der Schöpfung orientiert. Und Rachel Ruysch nimmt es damit sehr genau. Sie weiß, wie Blumen wachsen, sich öffnen oder im Wind wiegen, wie sie verwelken und selbst, wie sie riechen. Weder Fruchtknoten noch die dünnsten Staubfäden sind erfunden, und doch konstruiert sie eine eigene Wirklichkeit.

Was sie zusammenbringt, blüht selten gleichzeitig und kommt oft genug aus völlig unterschiedlichen Vegetationszonen. Auch die meisten Insekten und Echsen, die Ruysch mehr und mehr in ihre Kompositionen und gerade in die Waldbodenstillleben einfügt, würden in der Realität nie aufeinandertreffen. Schon gar nicht in der dargestellten Weise. Dass sich eine Eidechse über ein Vogelnest hermacht wie im 1709 gemalten Früchtestück aus der Alten Pinakothek in München, ist eine kühne Erfindung. Genauso wenig muss die Vogelspinne ihren Nachwuchs gegen einen Gefleckten Skink verteidigen. Und wenn neben einem Baumstrunk aus Kassel zwei Schnecken aneinandergeraten und eine Feuer speiende Kröte eine Echse bedroht, ist das mindestens kurios. Aber dieses Naturschauspiel im doppelten Wortsinn gibt Ruyschs Kunst den besonderen Kick. Das Storytelling könnte jedenfalls kaum besser sein, und im Positiven gilt das auch für ihre eigene Biografie.

Während ihre Schwester Anna nach der Eheschließung mit dem Farbenhändler Isaak Hellenbroek den Pinsel aus der Hand legt, und das ist ein Jammer, gibt es bei Rachel keine familienbedingten Zäsuren. Im Gegenteil. 1693 heiratet sie ihren Kollegen Juriaen Pool und malt unverdrossen weiter, trotz der immerhin zehn Kinder, die sie zur Welt bringt. Ohne Zweifel zieht das Paar an einem Strang, zumal der charmante Sohn eines früh verstorbenen Silberschmieds schon vor der Liebeshochzeit eingesehen haben dürfte, dass seine Karrieremöglichkeiten begrenzt sind. Rachel läuft in den späten 1690er-Jahren immer mehr zur Hochform auf. Ihre Sträuße gewinnen etwas Lockeres, als hätte sie ein Garten just in dieser Kombination hervorgebracht – duftig zart und fast schon im Begriff zu vergehen.

Das Blumenstück aus Wien und mehr noch die ebenso um 1700 angelegte Vase mit Blumen aus Den Haag kommen mit wenigen besonders feinen Blüten aus, die alle im Einzelnen studiert und bestaunt sein wollen. Selbst diese zurückhaltenden Arbeiten funktionieren wie alle Gemälde Ruyschs auf zwei Ebenen: Der Gesamteindruck wird von einem Arrangement aus Blüten, Pflanzen und Früchten dominiert, während sich in den Kelchen und auf Blättern eine kaum fassbar detaillierte Welt offenbart.

Rachel Ruysch, „Fruchtstillleben mit Hirschkäfer und Nest“ aus dem Jahre 1717
Rachel Ruysch, „Fruchtstillleben mit Hirschkäfer und Nest“ aus dem Jahre 1717. © A.Fischer/H.Kohler/Staatliche Kunsthalle Karlsruhe

Mit den Altvorderen Jan Davidsz. de Heem und Balthasar van der Ast oder der über 30 Jahre älteren Maria van Oosterwijck kann sich die junge Frau längst messen. Dass Ruysch 1701 erstes weibliches Mitglied der Künstlergesellschaft Confrerie Pictura in Den Haag wird, zeigt die Anerkennung, der sie mit ihren immer anspruchsvolleren Blumenbildern mehr als gerecht wird. Die Kunden stehen Schlange und warten geduldig, pro Jahr kann sie höchstens zwei Gemälde bewältigen. Mehr ist bei ihrem filigranen Pinselstrich nicht drin. Von 1708 an gelangt dann noch weniger auf den freien Markt, denn Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz ernennt Ruysch zur Hofkünstlerin. Übrigens 13 Jahre, nachdem er ihre Werke zum ersten Mal beim Besuch des „Ruyschianum“ in Amsterdam bewunderte.

Sie wird von der Residenzpflicht befreit, auch das deutet darauf, dass sie gewisse Bedingungen stellen kann. Doch Ruysch schmeichelt das Amt, unter Johann Wilhelm und seiner Frau Anna Maria Luisa de’ Medici erlebt Düsseldorf eine Zeit der kulturellen Blüte, ihre Kunstsammlungen zählen zu den herausragenden in Europa. Da reiht sich auch die „Amsterdamse Pallas“ keineswegs widerwillig ein und erreicht zugleich eine internationale Beachtung.

Man hebt sich gegenseitig, der Kurfürst übernimmt sogar die Patenschaft von Ruyschs jüngstem Sohn, der Jan Willem genannt wird – wie sonst. Sie ist bei der Geburt bereits 47 und soll bald darauf für die Hofgalerie porträtiert werden. Doch der mit ihr engagierte Ehemann malt sich selbst sowie das Patenkind mit ins Bild und unterstreicht damit den Status quo: Im Zentrum sitzt seine Frau, die den Kopf im Gestus melancholicus auf ihren Arm stützt. Sie ist die souveräne Künstlerin, die nichts mehr beweisen muss. Er bleibt im Hintergrund und verweist auf die Staffelei mit einem ihrer Stillleben, während der kleine Jan Willem eine goldene Medaille mit dem Konterfei des Kurfürsten hält. Der hat die Vollendung des Familienporträts 1716 nicht mehr erlebt, die verlorene Festanstellung ist für Ruysch dennoch kein Nachteil. An Aufträgen mangelt es auch jetzt nicht.

Lediglich der immense Lotteriegewinn lässt sie nach 1723 für ein paar Jahre innehalten, zudem ändert sich der Geschmack des Publikums. Bis 1738 sind keine Werke datiert, in Pools Nachlass ist dagegen von einem Obststück und einem Blumenstrauß aus dieser Zeit die Rede. Tatsächlich erfindet sich Rachel Ruysch noch einmal neu. Das heißt, sie besinnt sich wieder auf die kleinen Blumensträußchen ihrer Anfänge, verzichtet aber auf das dramatisierende Hell-Dunkel zugunsten einer einheitlichen Beleuchtung und wählt wie ihr Kollege Jan van Huysum einen freundlichen Fond. Dieses Gleiten ins Rokokohafte geht bei ihr mit einer überprononcierten bonbonfarbenen Palette einher, und das Ergebnis wirkt künstlich.

Juriaen Pool (1666–1745) und Rachel Ruysch (1664–1750), Selbstporträt von Juriaen Pool II mit seiner Frau Rachel Ruysch und dem gemeinsamen Sohn Joan Willem Pool, vor 1716
Juriaen Pool (1666–1745) und Rachel Ruysch (1664–1750), Selbstporträt von Juriaen Pool II mit seiner Frau Rachel Ruysch und dem gemeinsamen Sohn Joan Willem Pool, vor 1716. © Stadtmuseum Düsseldorf

Dabei war sie doch immer so besonders nah dran an der Natur. „Nature into Art“ lautet deshalb der Titel der ersten großen Ausstellung, die sich ab Ende November eingehend mit dem Schaffen Ruyschs auseinandersetzt: erst in der Alten Pinakothek in München, dann im Toledo Museum of Art in Ohio und anschließend Boston. Ruyschs Kunstprinzip ist damit auf einen kurzen Nenner gebracht und wird auch zum Programm. Denn neben der Einbettung ihres Œuvres in die Malerei der Zeit und der Vorbilder setzt Kurator Bernd Ebert auf einen fundierten Vergleich mit den naturwissenschaftlichen Präparaten, Objekten und Instrumenten. „Man darf hier durchaus an die Wunderkammer ihres Vaters denken“, erklärt der Sammlungsleiter für die holländische und deutsche Barockmalerei. Das führt vor Augen, wie unglaublich nah Rachel Ruysch an der damals aktuellen Forschung gemalt hat. Für Botaniker und Zoologen ist das bis heute verblüffend.

Auf der anderen Seite werden Kohlrosen und Ringelblumen, Pfirsiche und Gräser von einer genuinen Künstlerin wiedergegeben, die sich der Tradition der holländischen Stilllebenmalerei bewusst ist. Nach dem Zurschaustellen der Vergänglichkeit zwischen überbordenden Banketten und ausgeblasenen Kerzen schlägt sie konsequenter als van Aelst und van Schrieck neue Wege ein. Sie nimmt den Überlebenskampf in ihre Bilder auf, das Fressen-und-Gefressen-Werden. Die Eroberung fremder Kontinente ist nichts anderes, nur eben in einer ganz anderen, fatalen Dimension. Man kann sich damit auseinandersetzen, muss es aber nicht. Denn natürlich laden Rachel Ruyschs Blumenraffinessen nicht zuletzt dazu ein, der nicht immer freudvollen Welt abhandenzukommen.

Service

AUSSTELLUNG

„Rachel Ruysch. Nature into Art“,

Alte Pinakothek, München

26. November bis 16. März 2025

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