100 Jahre Neue Sachlichkeit

Spiegel der Moderne

Fast hundert Jahre ist es her, dass die Neue Sachlichkeit erfunden wurde. Doch ihre Kunst und Denkweise ist uns heute noch nah, wie Jubiläumsausstellungen in Mannheim und Stuttgart zeigen

Von Ulrich Clewing
18.11.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 234

Er war um seine Meinung gebeten worden, also äußerte er sie in der gebotenen Deutlichkeit: „Die Qualität des jungen Nachwuchses ist im Allgemeinen trostlos“, schrieb der Münchner Galerist Hans Goltz im Frühjahr 1923 an Gustav Friedrich Hartlaub. Das harte Urteil klang für den Leiter der Mannheimer Kunsthalle wenig ermutigend, war aber noch nicht alles. Auch Otto Dix ließ durch seinen Händler Karl Nierendorf ausrichten, dass er sich an Hartlaubs geplanter Ausstellung sicher nicht beteiligen würde. Zwei Jahre später hatten sowohl Dix als auch Goltz ihre Meinungen geändert: Dix schickte Bilder von sich nach Mannheim. Und auch Goltz hatte mit Georg Schrimpf, Carlo Mense und Alexander Kanoldt Maler gefunden, deren Arbeiten er so viel Wertschätzung entgegenbrachte, dass er sie gerne in die ehemalige kurpfälzische Residenzstadt entsendete. Sie und die übrigen Künstler dieser sehr besonderen Schau prägten damit einen ganzen Stil.

Sechzig Maler, 130 Bilder und ein genialer Titel, das reichte, um aus „Die Neue Sachlichkeit – Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ die kunstgeschichtliche Kategorie Neue Sachlichkeit zu machen. Dass in der Kunsthalle Mannheim drei Monate lang so unterschiedliche Werke zu sehen waren wie die im Duktus klassischen, in ihrer Haltung extrem unterkühlten Bilder eines Christian Schad, die bitterbösen Darstellungen gesellschaftlicher Missstände von George Grosz, Otto Dix und Georg Scholz und die immer irgendwie anscheinend gerade aus dem Gleichgewicht gefallenen Kompositionen des grandiosen Einzelgängers Max Beckmann, dieser nicht zu leugnende Umstand fiel 1925 schon den Zeitgenossen auf. Doch das schmälerte die Kraft des Begriff „Neue Sachlichkeit“ keineswegs, im Gegenteil: vermutlich steigerte es sie noch. Der Titel der Mannheimer Ausstellung ist vermutlich das früheste Beispiel, dass eine Kunstrichtung der letzten 150 Jahre nicht mit einem Ismus bezeichnet wurde. Sondern dass man ihr ein Label verlieh, um sie zu charakterisieren. „Es gelingt Museumsleuten sehr selten“, sagt Inge Herold, die stellvertretende Direktorin der Mannheimer Kunsthalle, „mit dem Titel einer Ausstellung einen bis heute gültigen Epochenbegriff zu erfinden.“

Die Neue Sachlichkeit war vieles: Bilder wie Christian Schads „Sonja“ von 1928, heute in der Neuen Nationalgalerie Berlin, oder „Operation“, das der Künstler ein Jahr darauf malte und das seit Langem zur Sammlung des Lenbachhauses in München gehört, sind emotionslos und distanziert bis an die Frostgrenze. Sie sezieren die Realität, als hätte Schad dafür statt eines Pinsels ein Skalpell verwendet.

Herbert Bayer, „Selbstporträt“ (1931). © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Andere, etwa die Werke von George Grosz, Georg Scholz und Otto Dix sind dagegen tatsächlich alles, nur nicht „sachlich“ – und sie wollen es auch gar nicht sein. Grosz’ „Leichenbegräbnis“ aus den Jahren 1917/18, eines der Hauptwerke der Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart, sein Gemälde „Grauer Tag“ von 1921, Scholz’ „Industriebauern“ aus dem Jahr davor, Otto Dix’ an gotische Dreiflügelaltäre angelehntes Werk „Der Krieg“ von 1929/32: alles Malerei gewordene Anklagen aus dem Geist der Sozialkritik in verschärfter Form, entstanden unter dem Eindruck der Gräuel des Ersten Weltkrieges und so ätzend wie eine Live-Reportage von den Schlachtfeldern von Verdun.

Und Grosz, Dix und Scholz ging es auch um die Auswüchse des Kapitalismus. Um diese anzuprangern, verwandelten sie ihre Figuren in Karikaturen – allen voran Dix, der jede und jeden ins Lächerliche zog, außer einem: Der Einzige, der in den Zwanzigerjahren auf seinen Bildern gut aussieht, ist er selber. Diese Spielart der Neuen Sachlichkeit nannte man schon damals „Verismus“. George Grosz, als Berliner quasi von Natur aus geradeheraus, brachte es 1925 auf den Punkt: „Der Verist hält seinen Zeitgenossen den Spiegel vor die Fratze. Ich zeichnete und malte aus Widerspruch und versuchte durch meine Arbeiten diese Welt davon zu überzeugen, dass sie hässlich, krank und verlogen ist.“

Dann war da der große Sonderling, auch ihn rechnete man von Anfang an zur Neuen Sachlichkeit: Max Beckmann, der die Menschen in den Städten porträtierte, als spielten sie Theater in einem Stück, das „Leben“ heißt. Oder „Alltag“. Oder „Zirkus“. Beckmann war in den frühen Zwanzigern dem Expressionismus noch am nächsten, aber er nutzte ihn im Lauf der Zeit als seine Bühne für seine eigenen Symbole, so rätselhaft, so ergreifend und so fremdartig schön, dass man den Eindruck hat, er überrage die anderen Künstlerinnen und Künstler dieser Jahre wie heute die Frankfurter Bankentürme den Eisernen Steg über den Main, den er mehrfach malte. Beckmann nannte seinen Stil „tranzendente Sachlichkeit“, und natürlich war auch er in der geschichtemachenden Mannheimer Ausstellung von Gustav Friedrich Hartlaub prominent vertreten.

Schließlich gab es noch die „rechte, konservative“ Fraktion, die schon Hartlaub als solche erkannte. Maler wie der gebürtige Karlsruher Alexander Kanoldt und Georg Schrimpf aus München, die die Zeit anzuhalten versuchten, in Stillleben oder Kompositionen mit jungen Frauen in Rückenansichten, die am Fenster stehen und hübsch und nett und brav hinaus in die Landschaft schauen. Sie sind elegisch, wenn man so will auch „klassisch“ und haben ohne Zweifel ihren Reiz. Aber sie wollen ausdrücklich niemandem wehtun, was in der Kunst der Neuen Sachlichkeit, erinnert man sich an das Zitat von George Grosz, nicht selbstverständlich war.

„Kriegerverein“ von Georg Scholz (1922)
„Kriegerverein“ von Georg Scholz (1922). © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe

2025 jährt sich Hartlaubs Ausstellung zum hundertsten Mal. Da die Twenties des 20. Jahrhunderts im Moment sowieso ziemlich präsent sind und Jubiläen inzwischen offenbar schon aus Prinzip vorverlegt werden, kann man im Jahr 99 nach der Schau in Mannheim ein erhebliches Maß an Aktivitäten registrieren. Bereits diesen Sommer zeigte das Leopold Museum in Wien „Glanz und Elend – Neue Sachlichkeit in Deutschland“. Ab 30. Oktober will man dort mit einer Einzelausstellung des Bregenzer neusachlichen Malers Rudolf Wacker nachlegen. Sehr interessant ist auch die Schau „Neues Sehen, Neue Sachlichkeit und Bauhaus. Fotografische Neuerwerbungen aus der Sammlung Siegert“ an der Staatsgalerie Stuttgart. Gezeigt werden auf 600 Qua­dratmetern in den Räumen „The Gällery“ rund 150 Fotogra­fien der Epoche, die die Stuttgarter seit zwei Jahren besitzen. Da sie in Chemnitz scheinbar als Einzige bis Hundert zäh­len können, eröffnet dort im Frühjahr 2025 eine Ausstellung mit Arbeiten der bis dahin doch recht unterbelichteten Neu­en Sachlichkeit aus Osteuropa.

Doch das größte, ambitionierteste und wissenschaft­lich engagierteste Projekt wird die Ausstellung sein, die ab 22. November in der Kunsthalle Mannheim zu sehen ist. Ku­ratiert hat sie die promovierte Kunsthistorikerin Inge He­rold, und es handelt sich bei der Schau um weit mehr als nur um eine Jubiläumswürdigung. Obwohl dort auch rund zwei Dutzend der Arbeiten vertreten sind, die schon 1925 in der Kunsthalle Mannheim ausgestellt waren, ist es keine bloße Kopie – denn die ist in einer virtuellen Präsentation auf Ta­blets aufgespielt, die auf die Besucherinnen und Besucher im Altbau der Kunsthalle warten. Hinter dem Hightech­ Er­lebnis steht echte geschichtliche Basisarbeit. Herold und ih­ren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern stand zwar der Ka­talog von 1925 zur Verfügung, aber der war praktisch ohne Abbildungen, bei vielen Malern wurden noch nicht einmal die Titel der Werke genannt, auch Maßangaben fehlten. Um herauszufinden, wie die Hartlaub’sche Schau im Einzelnen aussah, musste das Team zwei dicke Leitz­ Ordner mit Künst­lerkorrespondenzen durchforsten. Nach Wochen des mühevollen Klein­-Klein konnten immerhin 110 der ursprüngli­chen 132 Bilder „mit großer Wahrscheinlichkeit“ identifiziert werden. Von dieser Arbeit werden künftige Generationen von Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern profitieren.

Und da sich Herold, der Kunsthallen­-Direktor Johan Holten und alle anderen am Haus ohnehin darüber im Kla­ren sind, welche Bedeutung die Ausstellung von vor einhun­dert Jahren hat, können sie in Mannheim unverkrampft und ohne Skrupel daran gehen, das Konzept von 1925 kritisch zu hinterfragen. Auch wenn die Schau, die Hartlaub damals nach gut zwei Jahren Vorbereitung auf die Beine stellte, bis in die Gegenwart nachwirkt, so war sie in einem Punkt doch sehr in ihrer eigenen Zeit gefangen. Der wichtigste Kritik­punkt heute: „Zu der Ausstellung vor einhundert Jahren hat­te er nur männliche Künstler eingeladen“, sagt Inge Herold, „Frauen waren nicht vertreten, obwohl sie es verdient gehabt hätten. Das konnten wir so nicht stehen lassen, deshalb zei­gen wir nun auch Werke zum Beispiel von Anita Rée, Jeanne Mammen, Lotte Laserstein und Georgia O’Keeffe.“

Dass auch O’Keeffe ab November in Mannheim gas­tiert, deutet auf Teil zwei der kritischen Befragung: Wie der Untertitel von 1925 schon sagte, nahmen seinerzeit nur Künstler aus Deutschland an Hartlaubs Ausstellung teil. Jetzt binden Herold und ihr Team auch Werke von Künst­lerinnen und Künstlern aus den USA, aus Italien, der Schweiz, Österreich, den Niederlanden und Frankreich in ihre Schau mit ein. Und auch der dritte neue Aspekt in der Beschäftigung mit „Neue Sachlichkeit – Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ verspricht einiges ans Tageslicht zu befördern, das sonst gerne unter den Teppich gekehrt wird. In Mannheim haben sie sich die Mühe gemacht, die Biografien und künstlerischen Entwicklungen der damals beteiligten Künstler nach 1933 zu untersuchen. Bei Hartlaub war der Fall klar: Die neuen Machthaber entließen ihn als „Kulturbolschewiken“, sobald sie die Gelegenheit hatten – am 20. März 1933, zwei Wochen nach der letzten „freien“ Reichstagswahl. Doch es gab etliche Maler, die sich in den geänderten Verhältnissen erstaunlich gut zurechtfanden.

„Die Rugbyspieler“ von Max Beckmann (1929)
„Die Rugbyspieler“ von Max Beckmann (1929). © Bernd Kirtz/Lehmbruck Museum, Duisburg

Das ist eben auch eines der Merkmale der Neuen Sach­lichkeit: Die Künstlerinnen und Künstler, die man heute un­ter dem Epochenbegriff zusammenfasst, hatten oft sehr unterschiedliche Vorstellungen und Ziele. Was sie aber einte, war die Art, in der sie ein langes Jahrzehnt lang die Malerei zum Spiegel der Gegenwart machten. „Das Neue an der Neu­en Sachlichkeit“, sagt Inge Herold, „war das Zeitgefühl, wa­ren die Inhalte. Wenn man diese Bilder betrachtet, erfährt man eine Menge über das neue Menschenbild in den Zwan­zigerjahren, über die Menschen der damaligen Zeit über­haupt.“ Da ist auf der einen Seite das Verlorene, Versehrte, Gebrochene nach 1918, und das oft sehr konkret: Noch nie sah man so viele Männer, denen Gliedmaßen fehlten wie in der Neuen Sachlichkeit – ehemalige Soldaten, denen die Kriegstreiber nach dem Attentat von Sarajewo ihr Leben stahlen, ihre Arme und Beine, Augen und Ohren nahmen und die nun als Bettler auf den Straßen saßen, bedauert von den Witwen und Töchtern derjenigen, die auf den Schlacht­feldern in anonymen Gräbern lagen.

Da war aber noch mehr: das Vergnügen, das zur Sucht wurde, die Nächte ohne Sperrstunden, die Freiheit zu lieben, wen Mann und Frau wollte. Da waren die Kabaretts und Revuen, die Tiller Girls, die professionellen Antänzer und Illusionisten, die Dichter und andere Helden der brotlosen Kunst. Allzeit verfügbar waren Prostitution und Drogen, ständig auf Achse die Journalisten wie Egon Erwin Kisch, der 1924 seine Augenzeugenberichte unter dem Titel „Der rasende Reporter“ veröffentlichte. Christian Schad überlieferte ihn mit all seinen Tattoos am entblößten Oberkörper der Nachwelt – der Buchtitel wurde zu seinem Spitznamen, das Bild befindet sich heute in der Hamburger Kunsthalle. 1928 malte Rudolf Schlichter Kisch ein zweites Mal, mit Humphrey Bogart-Blick, brennender Zigarette im Mund, im Anzug mit Weste vor einer Litfaßsäule („Fußball – Tennis Borussia gegen Sturm Prag“) am Romanischen Café, dem Wohnzimmer der Kulturboheme am Berliner Breitscheidplatz. Schlichters Gemälde gehört heute zur Sammlung der Kunsthalle Mannheim und wird auch in der aktuellen Ausstellung gezeigt.

Die Ehrenloge am prominenten Ende dieser Aufzählung ist für die selbstbewussten Frauen reserviert, die man nun plötzlich überall sah. Die Tennis spielen wie in einem Gemälde von Lotte Laserstein, die im Sportwagen am Steuer sitzen, den Rausch der Geschwindigkeit genießen wie bei Albert Birkles „Dame im offenen Wagen“ von 1925. Auch Tamara de Lempicka hat sich selbst so porträtiert, in einem Auto der Farbe British Racing Green, mit furchtlosen stahlblauen Augen und rot geschminkten Lippen. Emanzipiert, selbstermächtigt, was seinerzeit als Ideal galt, gilt noch immer. Oder Schads „Sonja“, die man gar nicht oft genug erwähnen kann: Kurzhaarschnitt, Zigarette rauchend, am Tisch allein im Café, blasse Haut, dunkle Augenringe, im schwarzen Kleid mit durchsichtigen Chiffon-Ärmeln, Stoffblume an der Schulter, mit einem Blick wie ein 400-Seiten-Roman und dem Dichter Max Herrmann-Neiße mitsamt Champagnerflasche im Hintergrund. Das Bild ist fast einhundert Jahre alt, aber wenn einem Sonja heute in einem Berliner Lokal begegnete, wundern würde sich niemand.

Denn auch das zeichnet die Neue Sachlichkeit aus: Die Menschen auf diesen Gemälden machen es einem leicht, sich mit ihnen zu identifizieren. Ihre Präsenz zu spüren. Sich ihnen nahe zu fühlen, in ihnen Verwandtschaften, Mütter und Väter, Schwestern und Brüder zu erkennen. Dies gilt genauso für die Fotografien der Zeit – auch hier gab es nach den Ersten Weltkrieg einen Quantensprung, eine Annäherung an unsere Gegenwart, wie sie zuvor, wenn überhaupt, nur ansatzweise und flüchtig existiert hatte.

Der Kurator Jens-Henning Ullner von der Staatsgalerie in Stuttgart hat die Ausstellung mit Fotoarbeiten des Neuen Sehens, der Neuen Sachlichkeit und des Bauhaus aus der Sammlung Siegert kuratiert. „In der Nachkriegszeit verbreitete sich die Fotografie so rasch wie nie zuvor. Auf einmal gab es Handkameras zu kaufen, die man problemlos überall mit hinnehmen konnte. Auch viele Künstlerinnen und Künstler benutzten nun die Fotografie in ihren Arbeiten“, sagt Ullner. „Gleichzeitig haben die Menschen nach dem Krieg nach neuen Perspektiven gesucht, nach neuen Formen des individuellen Ausdrucks, nach individuellen Sichtweisen. Das Neue Sehen und die Neue Sachlichkeit haben der Fotografie zu einer eigenen neuen Sprache verholfen.“ Das zeigt sich sehr konkret: Ein Mann wie Friedrich Seidenstücker fotografiert sich und seine Begleiterin 1932 im Liegen. Was man sieht, ist die Wiese, sind die Felder in der Ferne – und die Beine der beiden („Picknick, Berlin“). Etwa zur selben Zeit hält sich Otto Umbehr, kurz Umbo, einfach die Kamera vors Gesicht: freier Oberkörper, Sonnenbrille, die Schatten seiner Arme und der Kamera. Jahrzehnte später wird man solche Fotos Selfies nennen.

Lotte Laserstein „Die Tennisspielerin“ von 1929
Lotte Laserstein „Die Tennisspielerin“ von 1929. © Foto: Lotte-Laserstein-Archiv Krausse, Berlin/VG Bild-Kunst, Bonn 2024, aus dem Buch: "Glanz und Elend. Neue Sachlichkeit in Deutschland", Walther König, 2024

Für Jens-Henning Ullner besteht kein Zweifel, dass die Fotografie der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre in ähnlich viele einzelne Strömungen zerfiel, wie die Malerei. Ein Selbstporträt wie das von Herbert Bayer ist im Grunde ein surrealistisches Werk, hochgradig künstlerisch und künstlich komponiert. Walter Peterhans’ reizende, unmittelbare, bemerkenswert nahbare Aufnahme einer „Bauhausschülerin“ dagegen entstand offensichtlich aus dem Moment heraus, im wahrsten Sinne des Wortes als Bild eines Augenblicks. Und Albert Renger-Patzschs streng symmetrisch von unten nach oben fotografierter „Industrie-Schornstein“ von 1925, er könnte auch eine Arbeit von Bernd und Hilla Becher aus den Sechzigerjahren sein.

Zu beobachten sind aber auch eine Menge Parallelen in den divergierenden künstlerischen Ansätzen. „Nach 1918 war die Sehnsucht groß, zu einer gewissen Nüchternheit in der Darstellung zu finden“, sagt Ullner. „Nehmen Sie als Beispiel August Sander, er schaut in seiner Serie ‚Menschen des 20. Jahrhunderts‘ auf alle und jeden mit dem gleichen analysierenden Blick, seien es ‚Landstreicher‘ oder ‚Der Aristokrat‘.“ Sander entwickelte die Idee zu seiner Porträtserie 1925, in demselben Jahr, in dem Gustav Friedrich Hartlaub in Mannheim seine Ausstellung auf den Weg brachte. Ursprünglich plante der Fotograf 45 Mappen à zwölf Porträts, daraus wurde schließlich ein Bildband mit 619 Fotos: ein eminent bedeutendes Zeitdokument und ein bis dahin (und auch danach) einmaliges gesellschaftliches Panorama.

Die Neue Sachlichkeit hat also unsere Vorstellung von den Zwanzigerjahren maßgeblich beeinflusst – auch weil die Gemälde und Fotografien so gut gealtert sind. Sie sind frisch geblieben, sie sagen uns noch immer etwas. Sie befriedigen unsere Neugierde, Schaulust und Seh-Sucht ebenso wie den Wunsch, Kunst als Spiegel des eigenen Ich zu verstehen.

Der Schwierigkeit, die verschiedenen Phänomene der Neuen Sachlichkeit unter einen Hut zu bekommen, begegnen die Kuratorinnen und Kuratoren in Stuttgart und in Mannheim, indem sie ihre Ausstellungen thematisch gliedern. An der Staatsgalerie zeigt Jens-Henning Ullner die 150 Werke der etwa 60 Fotografinnen und Fotografen der Sammlung Siegert in Blöcken, geordnet nach „Porträt“, „Landschaft“ und „Stillleben“. Für die Schau in Mannheim hat Inge Herold eine kleinteiligere Gliederung gewählt. Die großen drei, George Grosz, Max Beckmann und Otto Dix sind in einem Saal versammelt. Auf die Gegenüberstellung von Dix’ „Streichholzhändler II“ von 1927 und seinem „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“ (1925) mit den Werken von George Grosz sowie Max Beckmanns „Fastnacht“ (1925) oder dessen Porträt seiner ersten Ehefrau Minna Beckmann-Tube von 1924 darf man gespannt sein.

Umbo, Aus der Mappe
Umbo, Aus der Mappe "3 Umbo. 1927-1930. 10 Photographien". © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Im folgenden Rundgang erwartet die Besucherinnen und Besucher das Thema „Zeitgeschichte“. Dort treffen unter anderen die beklemmenden Darstellungen von Aufruhr, Ausbeutung und Spießertum eines Georg Scholz auf Heinrich Maria Davringhausens verstörendes Bild eines Lustmörders mit dem noch verstörenderen Titel „Der Träumer II“ – ergänzt und in der Wucht ihrer Wirkung potenziert durch die Bilder von Trinkern und Bettlern der zu Unrecht eher in die zweite Reihe versetzten Künstler Ernest Neuschul, Otto Ritschl und Erich Drechsler. Weiter geht es mit dem „Menschenbild“ und dem „Bild der Frau“, die absichtlich zwei voneinander getrennte Kapitel bilden: Denn die modernen Frauen, die Karl Hubbuch („Lissy im Café“), der bereits erwähnte Albert Birkle, Heinrich Zernack, Gerta Overbeck und Lotte B. Prechner („Jazztänzerin“) malten, waren bis dahin in der Kunst praktisch unbekannt. Heute dagegen scheinen uns die „Laborantin“ von Richard Birnstengel und Meredith Framptons „Marguerite Kelsey“ aus der Tate Modern in London doch wohlvertraut.

Als nächstes Kapitel schließen sich die „Körperideale“ mit Picassos „Die Leserin“ von 1920 und dem „Akrobaten“ von Davringhausen an. Beckmanns fantastische „Rugbyspieler“ sind dort ebenso ausgestellt wie Rudolf Bellings Bronzefigur des Boxers Max Schmeling, eine der wenigen plastischen Arbeiten der Mannheimer Schau. Es folgen intensive „Selbstbildnisse“, etwa das von Lotte Laserstein vor der zerklüfteten Berliner Stadtlandschaft oder das „Selbstbildnis in der Malkutte“ von Fridel Dethleffs-Edelmann, auf dem uns einmal mehr auf verblüffende Weise eine Frau von 2024 gegenübertritt. Das Gleiche gilt für das Porträt, das die niederländische Malerin Charley Toorop 1930/31 von sich anfertigte.

Die Themen „Stillleben“, „Landschaft“ und „Stadt, Industrie, Mobilität“ runden den Parforceritt durch ein auf- und anregendes Jahrzehnt der europäischen Kunstgeschichte ab. Als kluger Schachzug entpuppt sich die Entscheidung, in diese Themenblöcke, wo es sich anbot, Werke aus den späten Dreißigerjahren zu integrieren. Zum Beispiel Otto Dix’ gekonnt ausgeführtes, aber als Bild in seiner Gefälligkeit vollkommen zahnloses Porträt der „Emmi Hepp“ von 1939, sein kitschiger „Christophorus (im großen Teich)“ von 1941 oder – bei den „Körperidealen“ – Gerhard Keils uniforme und schablonenhaft seelenlose „Turner“, ebenfalls aus dem Jahr 1939. So wird die Fallhöhe augenfällig, welche die Maler, die sich nach 1933 mit Repression und Restriktion zu arrangieren versuchten, künstlerisch ins Bodenlose abstürzen ließ. Hier ist kein Biss mehr, nichts Neues, Unerwartetes, keine Präsenz, die einen faszinieren könnte. Nur Abklatsch, Niedergang und Selbstbeschädigung.

1925 lief die Ausstellung, die Hartlaub organisierte, mehr als drei Monate lang. Damals sahen sie bemerkenswert wenige Menschen, obwohl sie in den Zeitungen rauf und runter besprochen wurde. 4100 waren es, um genau zu sein. Die Prognose sei erlaubt: Dieses Mal werden es mehr.

Service

AUSSTELLUNG

„Die Neue Sachlichkeit. Ein Jahrhundertsjubiläum“

in der Kunsthalle Mannheim,

22. November bis 9. März 2025

kuma.art

AUSSTELLUNG

„Neues Sehen, Neue Sachlichkeit und Bauhaus. Fotografische Neuerwerbungen aus der Sammlung Siegert“

in der Staatsgalerie Stuttgart

bis 23. Februar 2025

staatsgalerie.de

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