Marc Chagall in Wien

Entzückend und erschreckend

In Marc Chagalls verspielten Bildern können Kühe fliegen, und Blumensträuße wachsen höher als Häuser. Dass das Werk des großen Träumers der Moderne auch eine düstere und politische Seite hat, zeigt jetzt seine Retrospektive in der Wiener Albertina

Von Ulrich Clewing
04.10.2024

Es ist ein bezauberndes Bild, voller Poesie, Harmonie und Frieden. Auf einer Wiese liegt eine junge Frau im Gras und schläft. Der Himmel, die Landschaft, sie sind in ein reizendes Blau gehüllt – und über der Schlafenden stehen am Firmament ein roter Mond und ein riesiger Blumenstrauß. Die mächtige Stadtmauer und der markante viereckige Turm im Zentrum deuten darauf hin, dass es sich um den Ort Saint-Paul-de-Vence im südfranzösischen Departement Alpes-Maritimes handelt, in dessen Nähe der Künstler das Anwesen „Les Collines“ besaß.

Marc Chagall, der dieses Gemälde im Jahr 1972 um seinen 85. Geburtstag herum schuf, ist einer der Maler, über die man alles zu wissen glaubt. So ist auch „Schlafende mit Blumen“ aus der Sammlung der Wiener Albertina ein „typischer Chagall“: verträumt, märchenhaft, gemalt in einem magischen, leicht süßlichen Realismus, bei dem die verrücktesten Dinge möglich sind. Kühe, die fliegen. Blumensträuße, so groß wie eine ganze Stadt. Liebespaare, eng umschlungen, denen vor lauter Glück der Boden unter den Füßen abhandengekommen ist. So kennt man Chagall, so lieben ihn die einen, und so blicken die anderen ein wenig überheblich auf ihn herab.

Da darf die Frage erlaubt sein, wie es sein kann, dass er gut sechzig Jahre vor der „Schlafenden“ ein Gemälde wie dieses malt: Man sieht eine Dorfstraße, auf der – eingerahmt von Kerzenleuchtern – offensichtlich ein Toter am Boden liegt. Eine Frau, barfuß, im hellen langen Rock, hebt klagend die Arme, während ein zweiter Mann mit einer Schaufel hantiert, ein dritter auf dem Dach sitzt, wo er Geige spielt, und ein vierter gerade fluchtartig die Szenerie verlässt (und dabei in der Eile noch zwei Blumentöpfe umstößt). Der Himmel ist hier nicht blau, sondern von einem giftig gelben Grün mit ein paar schwarzen Wolken. „Der Tod“, ein Werk des jungen Chagall, das seit Langem im Centre Pompidou in Paris ist, wird bald in Wien auf die „Schlafende mit Blumen“ treffen.

Die Kuratorinnen des Museums Albertina, dessen Bestände auch rund dreihundert Arbeiten von Marc Chagall umfassen (überwiegend Zeichnungen, Aquarelle und Grafiken neben acht Gemälden aus der Sammlung Batliner), haben zwanzig Jahre nach ihrer letzten Chagall-Schau eine Ausstellung organisiert, mit der sie diesen Künstler neu einordnen möchten. Die Chancen stehen gut, dass ihnen das gelingt. Rund 110 Gemälde und 35 Aquarelle und Grafiken haben sie dafür zusammengetragen, aus Paris und aus New York, aus St. Louis und Tel Aviv, aus Basel, Amsterdam, Los Angeles und Jerusalem. Zahlreiche Leihgaben stammen auch aus Privatsammlungen, was garantiert, dass die Besucherinnen und Besucher in Wien manche ihnen bisher unbekannte Werke sehen werden. „Wir wollen“, sagt Gisela Kirpicsenko, die Verantwortliche der Schau, „das Bild revidieren, das von Marc Chagall in der breiten Öffentlichkeit herrscht.“ Für Kirpicsenko ist Chagalls Kunst „widersprüchlich, der Logik des Gewohnten entgegengesetzt“. Kaum etwas, schreibt sie in ihrem lesenswerten Katalogbeitrag, „scheint dort an seinem rechten Platz“. Außer der Wiederholung von Motiven und Themen sei in seinen Bildern „nichts beständig und nichts eindeutig. Es gibt nur eine Konstante in seinem Leben – die Erinnerung an seine Kindheit in Witebsk.“ Daraus entwickelt Chagall seine privaten Symbole, allerdings variiert ihr Sinn je nach Zusammenhang. So kann die Kuh auf das Dasein in Witebsk anspielen oder auf Fruchtbarkeit und Mutterschaft. Esel, Hahn und Pferd oder Objekte wie ein Samowar, schreibt Kirpicsenko, „gehören ebenfalls der dörflichen Welt an. Familienmitglieder, Rabbiner, Geiger und Bettler erinnern an sein Umfeld und seine Herkunft.“ Blumen stehen für Freude. Die Bräute für die Liebe – aber Obacht: Sie bedeuten unter Umständen auch etwas ganz anderes. Beispielsweise, wenn sie den Mann auf ihre Schultern nehmen wie bei dem „Doppelporträt mit Weinglas“ von 1917/18 aus dem Centre Pompidou: Dann sind sie nicht die Liebenden, sondern das Fundament der Familie, die Ernährerinnen.

In Wien wird eine grandiose Auswahl an Werken präsentiert (danach zeigt sie ab 15. März 2025 die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf). Darunter sind frühe Arbeiten wie das schon erwähnte Bild „Der Tod“ von 1908/09, das selten ausgestellte „Haus in der Allee“ aus demselben Jahr, ebenfalls vom Centre Pompidou geliehen, und „Das Atelier“ von 1911, das genauso gut von Henri Matisse sein könnte. Gezeigt werden umwerfende Porträts, etwa das androgyne „Selbstbildnis“ von 1914 aus Basel und das zur gleichen Zeit entstandene, aber stilistisch ganz anders angelegte Pariser „Selbstbildnis in Grün“. Den Weg nach Wien geschafft haben auch so unterschiedliche Gemälde wie der meditativ klare „Rabbiner in Schwarz-Weiß (Der betende Jude)“ von 1914/22 aus Venedig, das kubistische Bild „Adam und Eva (Die Versuchung)“ von 1912 aus St. Louis, der dramatische, fast zwei Meter breite Baseler „Engelsturz“ (1923/47) oder „Die Gekreuzigten“ von 1944, ein Werk, das man, hat man es einmal gesehen, nicht mehr so leicht vergisst – besonders wenn man sich vor Augen hält, in welchem Jahr Chagall es malte. Dies ist lediglich ein kleiner Ausschnitt aus der Werkliste, die einem mit Nachdruck nahelegt, dass Urteile wie „Das ist ein typischer Chagall“ nur mit größter Vorsicht abzugeben sind.

Geboren als Moische Chazkelewitsch Schagal 1887 in einem Vorort der Stadt Witebsk im heutigen Weißrussland, war Marc Chagall das älteste der neun Kinder von Sachar und Feiga-Ita Schagal. Anders als manche Biografien behaupten (zu Zeiten der Sowjets auch seine eigene), waren seine Eltern nicht Arbeiter, sondern Angehörige des Bürgertums. Sein Vater, ein schweigsamer, in sich gekehrter Mann, war kaufmännischer Angestellter in einer Heringsfabrik, seine energische, extrovertiertere Mutter betrieb ein Lebensmittelgeschäft. Beide waren sie orthodoxe Juden, aber liberal genug, um nicht darauf zu bestehen, dass auch ihr Ältester den jüdisch-orthodoxen Glauben annahm.

„Ich denke, Marc Chagall war nicht religiös in dem Sinne, dass er einer bestimmten Glaubensrichtung folgte“, sagt Gisela Kirpicsenko. „Aber er war an Spiritualität interessiert und hat die Existenz einer höheren Macht akzeptiert – gerade in seinem Spätwerk ging es ihm darum, jenen Kern herauszulösen, der allen Religionen zugrunde liegt.“ Was ihn zweifellos prägte, war seine Heimatstadt, einer der durch den Zweiten Weltkrieg und den deutschen Völkermord untergegangenen kulturellen Melting Pots des Ostens. In Witebsk lebten Ende des 19. Jahrhunderts rund 50.000 Menschen, die Hälfte von ihnen waren Juden. Ihr Alltag war der Resonanzboden und Erinnerungsschatz, von dem er während seiner gesamten Laufbahn zehrte.

In Witebsk studierte Chagall ein Jahr bei dem Maler Jehuda Pen, einem Künstler, der sich für eine neue, selbstbewusste jüdische Kultur einsetzte. Später ermöglichten ihm Mäzene – und ein geglückter Bestechungsversuch seiner Mutter – ein Studium in Sankt Petersburg. Ein entscheidender Schritt für Chagall, auch weil er dort Bella Rosenfeld kennenlernte, die Liebe seines Lebens. Es gibt Fotos, die erahnen lassen, was für eine starke, eindrucksvolle Persönlichkeit sie gewesen sein muss. Sie war klug, gebildet und ließ Marc Chagall sieben Jahre Zeit mit der Heirat – er sollte sich erst als Maler etablieren, sie wollte ihr Studium der russischen Literatur in Moskau abschließen, was eindeutig gegen die Gepflogenheiten der russischen Gesellschaft im Allgemeinen und die der jüdischen Gemeinschaft im Besonderen verstieß. Das Interesse an einem jüdischen Selbstbewusstsein sollte er dennoch nie ganz verlieren. Er verfasste selbst Gedichte und Artikel über Kunst und Literatur auf Jiddisch und lieferte Illustrationen für Lyrikbände jiddischer Autoren wie Isaak Leib Perez, Abraham Sutzkever und David Hofstein.

Einem anderen Mäzen, dem Anwalt, Politiker und Vorsitzenden der in Sankt Petersburg gegründeten jüdischen Historischen und Ethnographischen Kommission, Maxim Winawer, verdankte Chagall, dass er ab 1911 sein Studium in Paris fortsetzen konnte. Für ihn wurde die Stadt bald zu seinem „zweiten Witebsk“, auch wenn er sie zu Beginn des Ersten Weltkrieges noch einmal neun lange Jahre verlassen musste: Er war auf Besuch in Weißrussland zur Hochzeit einer seiner Schwestern, als der Krieg ausbrach, danach konnte er erst einmal nicht zurück. Er nutzte die Zeit, um sich 1915 mit Bella zu vermählen, im Mai 1916 wurde ihre gemeinsame Tochter Ida geboren.

Zunächst aber in Paris, mietete Chagall einen Raum im Atelierhaus La Ruche (französisch für „Der Bienenstock“) auf der Rive Gauche. Dort arbeiteten Hunderte von Künstlerinnen und Künstlern, aber er hatte nur Kontakt zu anderen Russen. Kunstkritiker und Literaten bemühten sich um ihn: Ricciotto Canudo, ein Filmtheoretiker und Herausgeber der Avantgarde-Zeitschrift Montjoie!, wurde sein Mentor. „Ihr Kopf erinnert mich an den von Christus“, schwärmte er. Guillaume Apollinaire erwähnte Chagall in seinen Rezensionen, der Schweizer Blaise Cendrars schrieb ein Gedicht über ihn und half ihm bei der Suche nach Titeln für seine Arbeiten. Seinen Vornamen hatte er inzwischen von Moische in Marc geändert, und nur ein Jahr nach seiner Ankunft in Paris nahm er – gerade mal 25 Jahre alt – schon mit drei Werken am „Salon des Indépendants“ teil: mit „Russland, den Eseln und den Anderen“, „Meiner Braut gewidmet“ und „Der Betrunkene“.

Vor allem das erste ist ein absolut spektakuläres Bild, es wird auch in Wien zu sehen sein: Grüne und gelbe Lichtblitze durchzucken die Nacht, rechts meint man den Widerschein eines großen Feuers zu erkennen. Die Hauptperson trägt ein Kleid oder einen langen Mantel und ist ihrem Geschlecht nach eher unbestimmt, sie könnte eine Frau, aber auch ein Mann sein. Was unmittelbar ins Auge fällt, ist, dass sich ihr Kopf vom Rumpf gelöst hat. Neben einer russisch-orthodoxen Kirche rechts unten steht ein Haus mit einer großen roten Kuh auf dem Dach, die ein Kalb und ein Kind säugt. Wenn man so will, ist „Russland, den Eseln und den Anderen“ ein programmatisches Bild, es steht exemplarisch für viele andere, die noch kommen werden: Hochgradig rätselhaft, fällt es einem schwer, eindeutig zu bestimmen, was oder wer darauf zu sehen ist. Das Ambivalente, die Verbindung von sich grundsätzlich widersprechenden Empfindungen und Eindrücken, sie werden Chagalls Schaffen durchziehen wie der Faden der Ariadne das Labyrinth des Minotaurus – nur dass man damit, anders als der Held Theseus in der griechischen Mythologie, nicht den Ausgang findet.

Chagall sah sich nicht nur als Maler, er hegte auch Ambitionen als Schriftsteller. So verfasste er während seines Zwangsaufenthalts in Russland seine Autobiografie „Mein Leben“, und er äußerte sich auch sonst immer wieder über seine Kunst. In „Mein Leben“ schreibt er: „Ich begreife nichts, es sei denn, durch meinen Instinkt.“ Und in einem Interview mit James Johnson Sweeney für die Zeitschrift Partisan Review gibt er 1944 zu Protokoll: „Unsere ganze innere Welt ist Realität – und vielleicht mehr als unsere sichtbare Welt.“ Damit eröffnet er mannigfaltige Möglichkeiten zur Interpretation und für grobe Missverständnisse.

Im Katalog zur Wiener Schau bringt es Gisela Kirpicsenko auf den Punkt: „Lebt seine Kunst auch vom Erzeugen von Empfindungen, bleibt doch die Unklarheit darüber, um welche Empfindung es sich handelt, ein wesentlicher Aspekt. Niemals erzählen seine Bilder ein in ihrer Stimmung eindeutiges Ereignis. Denn ihr Gehalt liegt gerade darin, dass ein eindeutiges Verstehen in der Sekunde, in der es erreicht scheint, schon wieder relativiert, da irritiert wird.“ Bei manchen Kritikern hat man allerdings den Eindruck, dass sie vor allem über sich selbst sprechen, wenn sie seine Bilder beschreiben.

Die drei Gemälde, die der Maler 1912 im „Salon des Indépendants“ ausgestellt hatte, begeisterten auch Herwarth Walden von der Sturm-Galerie in Berlin, der zwei davon – das Russland-Bild und „Meiner Braut gewidmet“ – zusammen mit dem Gemälde „Christus gewidmet“ unbedingt in seinem Ersten Deutschen Herbstsalon zeigen wollte. Chagall wurde allseits gefeiert, allerdings, so Susanne Meyer-Büser von der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in ihrem Katalogbeitrag, zu seinem Leidwesen aus den falschen Gründen: „Die Tragik des Erfolgs bestand darin, dass die politische, kritische und dunkle Seite seiner Bilder weitgehend verkannt und ausgeblendet wurde.“

Meyer-Büser zitiert die Kunsthistorikerin Karoline Hille, die bereits vor knapp zwanzig Jahren anmerkte, dass ein großer Teil der Rezeption Chagalls als „Traum-Maler“ auf eine Besprechung Theodor Däublers in der Zeitschrift Neue Jugend von 1916 zurückgeht. Däubler formulierte es in der ihm eigenen expressionistischen Diktion: „Ein kosmisches Kind lebt unter uns. Marc Chagall (…) Die Farbe ist sein Himmelreich, seine Erde (…) Wo sie aufblutet, ist alles zum Besten bestellt; denn im Grunde ist jede starke Empfindung, schon wegen ihrer Echtheit, gut. Selten, aber gut. Chagalls Farbe ist Urfarbe; die Güte im Kosmos. Er, ein Russe, erklärt sich die Weltseele ganz märchenhaft.“ Dass Däubler dabei auf anderthalb Augen blind war – geschenkt. Hauptsache, die eingeschränkte Lesart war einmal in der Welt.

Chagall selbst war ausgesprochen unglücklich über solche Ansichten – den Ersten Deutschen Herbstsalon erwähnt er in »Mein Leben« lediglich in einem Halbsatz. Er malte nämlich sehr wohl Bilder, mit denen er sich auf aktuelle politische Ereignisse bezog. Auf die Pogrome gegen Juden in Russland in den frühen 1880er-Jahren, auf die des Jahres 1906 und – etwa mit den „Gekreuzigten“ von 1944 – auf die Gräueltaten der Deutschen ab 1933. Und doch war auch er selber nicht ganz unschuldig an der allgemeinen Wahrnehmung, er male „märchenhafte Bilder“. Chagall hatte in seinen Äußerungen zweifellos einen Hang zum Lyrischen. Über seine Kindheitserinnerungen sagte er einmal: „Mein Zimmer wurde von dem Dunkelblau erhellt, das aus dem einzigen Fenster fiel. Das Licht kam von weit her: von dem Hügel, auf dem die Kirche stand.“ Oder über seinen Vater in seiner Biografie: „Wenn ich ihn unter der Lampe betrachtete, träumte ich von Himmeln und Gestirnen, weit hinter unserer Straße. Alle Poesie des Lebens hat sich mir da in der Traurigkeit und dem Schweigen meines Vaters verdichtet. Hier war die unerschöpfliche Quelle meiner Träume, mein Vater, vergleichbar der unbeweglichen, verschwiegenen und schweigsamen Kuh, die auf dem Dach der Hütte schläft.“

Im November 1923 kehrte Chagall endlich nach Paris zurück und etablierte sich rasch als Künstler mit internationalem Renommee. Die bekanntesten Galerien – Ambroise Vollard, Bernheim-Jeune – vertraten ihn. Ende der Zwanzigerjahre erwarb er eine Villa im 16. Arrondissement, pflegte Freundschaften zu Malern und Schriftstellern wie Robert Delaunay, Jean Cocteau, Max Jacob und Georges Rouault. Dann wurde der düstere Teil der Visionen in seinen Bildern langsam wahr. 1933 verbrannten die Deutschen in Mannheim im Zuge der NS-Propaganda-Ausstellung „Kulturbolschewistische Bilder“ Werke Chagalls, während die Kunsthalle Basel ihm im selben Jahr noch eine große Retrospektive ausrichtete.

1937 erlangte er nach zwei vergeblichen Anläufen die französische Staatsbürgerschaft, doch sie gewährte ihm keinen Schutz, als Deutschland den Zweiten Weltkrieg anzettelte. Über die Provence flohen er und Bella mit der Hilfe des Journalisten Varian Fry und einer Einladung des New Yorker Museum of Modern Art in der Tasche in die USA. Dann, 1944, die persönliche Katastrophe: Bei einem Aufenthalt am idyllischen Cranberry Lake in Upstate New York starb Bella plötzlich an einer Virusinfektion. Chagall, tief getroffen, rührte für neun Monate kein Bild mehr an. 1948 zog der Künstler, mittlerweile liiert mit der Engländerin Virginia McNeil, zum dritten und letzten Mal nach Frankreich, in den Ort Orgeval westlich von Paris. Wieder bemühten sich prominente Kunsthändler um ihn, das Rennen machte schließlich der junge Aimé Maeght. Im Jahr darauf verlegte der Maler wie zuvor schon Picasso und Matisse seinen Wohnsitz nach Südfrankreich. Er lernte seine dritte Frau Valentina „Vava“ Brodsky kennen und übernahm immer größere Aufträge. Er arbeitete an einem monumentalen Bibelzyklus und fertigte um 1960 für die Synagoge des Hadassah-Universitätskrankenhauses in Jerusalem seine ersten Glasfenster an. Die Kathedrale in Metz, das UNO-Hauptgebäude in New York, die Kirche Fraumünster in Zürich und der Dom in Mainz, sie alle erhielten Fenster, die Chagall entwarf: Die Farben und das Licht in seinen Gemälden ließen sich hervorragend in dieses Medium übersetzen. Dabei war es dem Künstler wichtig, dass die Aufträge nicht von der Kirche, sondern vom Staat kamen – und dass er dafür keine Honorare erhielt.

Die Glasfenster sind ein wichtiger Teil des Gesamtwerks von Marc Chagall, der in Wien notgedrungen ausgeblendet bleiben muss, doch abgesehen davon sind in der Albertina jetzt Arbeiten aus acht Jahrzehnten versammelt. Umfangreicher wurde sein Schaffen schon lange nicht mehr gezeigt, obwohl ihm bereits zu Lebzeiten etliche Retrospektiven auf allen Kontinenten ausgerichtet wurden. Die aktuelle Ausstellung ist ein Panoptikum des Menschlichen. Entzückend, aber nicht immer. Erschreckend, aber nicht immer. Widersprüchlich fast immer und immer wieder neu und überraschend.

Service

AUSSTELLUNG

„Chagall“,

Albertina, Wien,

bis 9. Februar 2025

albertina.at

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