In den Bildern von Henri Matisse spüren wir die reine Lebenslust. Das stilübergreifende Schaffen dieses Publikumslieblings der modernen Malerei zeigt jetzt die Fondation Beyeler in Basel in einer großen Retrospektive
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16.09.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 231
Sein Urlaub im Paradies entsprach den Erwartungen. Daher konnte der Postkartengruß, den Henri Matisse im Juni 1930 von Tahiti abschickte, recht kurz ausfallen: „Guter Aufenthalt, gute Erholung“, schrieb er seinem Malerfreund Pierre Bonnard. „Habe allerlei Dinge gesehen. Werde Ihnen das erzählen. Habe 20 Tage auf einer ‚Koralleninsel‘ gelebt: reines Licht, reine Luft, reine Farbe: Diamant Saphir Smaragd Türkis. Phantastische Fische. Habe absolut nichts gemacht, außer schlechte Fotos.“ Dass der damals sechzigjährige Matisse vom weitverbreiteten Fluch der Ferienfaulenzerei ereilt wurde, musste ihn nicht bekümmern. Nach Zwischenstationen in New York und San Francisco hatte er drei Monate auf Tahiti verbracht, um das Licht der Südsee zu suchen. Er hatte es gefunden. Und selbst wenn er es nicht im unmittelbaren Moment gemalt hatte, würde es später in seinen Bildern aufscheinen. So war es schon oft gewesen.
„Matisse – Einladung zur Reise“ heißt die große Retrospektive, bei der ab dem 22. September die Wandflächen der Fondation Beyeler in Basel in intensivsten Farben erglühen werden. Bedeutsam ist der Titel nicht zuletzt, weil hier die Lebensreise von Matisse in mehr als 70 Hauptwerken aus allen Schaffensperioden inszeniert wird. Und die angekündigten Leihgaben sind erlesen: Aus der National Gallery of Art in Washington kommt der berühmte Blick durch das offene Fenster, durch das der Maler 1905 den Strand von Collioure in zartesten Rosatönen wahrnahm. Das Kimbell Art Museum im texanischen Fort Worth verzichtet für eine Weile auf die Allegorie „Asien“ (1946), die den Kontinent als Schönheit im blau-violetten Mantel vor flammend roter Tapete zeigt. Das Pariser Centre Pompidou schickt gleich sechs wichtige Werke, darunter „Le Luxe I“ (1907).
Auf eine solche Überblicksschau musste die deutschsprachige Museumswelt fast zwei Jahrzehnte warten. Sie ist mithin ein Generationenereignis. Wer nun der Einladung folgt und den Kosmos Matisse mit den Augen durchwandert, kann neben dem Leitthema der Reise auch dessen motivischen Kontrapunkt – das Atelier – entdecken. Zwar zog es den Maler besonders zu Anfang seiner Karriere auf der Suche nach neuen Eindrücken häufiger in die Ferne: 1906 erwarb er im Algerienurlaub einen Kelim und anderes Kunsthandwerk, ein Jahr später stand er in Padua staunend vor Giottos Fresken in der Cappella degli Scrovegni. Verarbeitet hat er diese Erlebnisse jedoch erst im heimatlichen Arbeitszimmer. So ist auch die Strandszene „Luxe, calme et volupté“ („Luxus, Stille und Genuss“) von 1904 kein authentischer Urlaubsbericht aus Saint-Tropez, denn zu der picknickenden Frau mit Kind erfand Matisse noch fünf unbekleidete Grazien als Gesellschaft. Den Sommerabendtraum malte er im Farbpunktestil des Neoimpressionismus in Paris. Als Bildtitel borgte er sich eine Zeile des Gedichts „Einladung zur Reise“ von Charles Baudelaire. Eine Anspielung, die dem damaligen Publikum nicht entgangen sein dürfte.
Die 1857 erschienene lyrische Aufforderung zum Besuch eines imaginären Traumlandes steht nicht ohne Grund über dieser Retrospektive: „Zahlreiche Themen aus Baudelaires Gedicht finden sich in Matisse’ Bildwelt wieder, darunter Landschaft und Idylle, Licht und Farbe, Interieur und Dekoration oder die Vorstellung des ‚Orients‘“, sagt Raphaël Bouvier, der Kurator der Ausstellung. Wenn der Dichter in jeder Strophe den Begriffsakkord von „Schönheit und Genuss, Ordnung, Ruhe, Überfluss“ beschwört, scheint er die künstlerische Zielsetzung des Malers vorwegzunehmen. „Luxe, calme et volupté“, das zur Sammlung des Centre Pompidou gehört und das die Basler Schau im Auftaktraum präsentiert wird, gilt daher in Matisse’ Œuvre als ein Schlüsselwerk – mit dem der Schöpfer bald unglücklich war: „Das Zerstückeln der Farbe führte zu einer Zerstückelung der Form“, urteilte Matisse 1929 über den Neoimpressionismus. Dieser sei bloß eine „Netzhautempfindung“, die die Ruhe der Oberfläche zerstöre.
Die Suche des Künstlers nach einer stabileren Komposition als nächstem Einwicklungsschritt wird der zweite Ausstellungsraum vor Augen führen: Die Bilder „Das offene Fenster, Collioure“ und „Interieur in Collioure (Die Mittagsruhe)“ – beide entstanden 1905 im südfranzösischen Ferienzimmer – sind bereits aus größeren Farbflächen aufgebaut, die sich gegenseitig in der Leuchtkraft steigern. Der Neoimpressionismus wird hier abgelöst vom Fauvismus mit seinem „wilden“ Farbenrausch, der die Kritiker seinerzeit verschreckte, das Publikum aber heute verzaubert.