Reisetipp für den Sommer

Munch at Home

Für die weltgrößte Sammlung von Werken Edvard Munchs hat Oslo ein neues Museum gebaut – das auf sperrige Weise zu Norwegens Maler und seiner dramatischen Weltsicht passt

Von Tim Ackermann
17.05.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 194

Oslo lag Edvard Munch zu Füßen, als die Panik ihn erwischte. Vom Ekeberg im Osten der Stadt aus hatte er eben noch den Sonnenuntergang über dem Fjord bewundert. Nun stand er plötzlich vor Angst zitternd da und meinte in seiner Verstörung, einen „unendlichen Schrei durch die Natur“ zu vernehmen. Diese existenzielle Erfahrung bewahrte Munch wenig später in seinem berühmtesten Bild: Vor einem flammenfarbigen Himmel hält ein einsamer Mensch den Kopf in seinen Händen. Hinter der Figur sind das funkelnde Wasser und das Stadtviertel Bjørvika zu sehen. Dort am Hafen – und nicht etwa oben auf dem Berg – steht heute das neue Munch-Museum. Und doch lässt sich von hier aus die Perspektive des Malers nachvollziehen. Wenn man nämlich im 13-stöckigen Ausstellungsturm Rolltreppe für Rolltreppe nach oben fährt und dabei durch die großen Fenster schaut, dann hebt sich ganz allmählich der Blickwinkel, sodass am Ende das komplette Panorama von Stadt, Fjord, Inseln und Hügeln vor dem Auge ausgebreitet liegt. Munch light, sozusagen.

Dieser Ort, auf den man blickt – halb Natur, halb urban – war der Nährboden, in dem fast das gesamte Schaffen von Edvard Munch gedieh. Den überwiegenden Teil seines Lebens hat Norwegens berühmtester Maler in Oslo verbracht, von kurz nach seiner Geburt im Jahr 1863 bis zu seinem Tod 1944 in der Künstlervilla Ekely. Vier Jahre zuvor war das Land im Krieg von der deutschen Armee besetzt worden, und angesichts der Okkupation hatte Munch flugs sein Testament geändert: Seinen Nachlass vermachte er der Stadt Oslo, darunter fast 27.000 Gemälde, Zeichnungen, Aquarelle, Fotografien und Drucke. Diese bildeten den Sammlungsgrundstock des ersten, 1963 im Stadtteil Tøyen eröffneten Munch-Museums. Ein Kunstraub, bei dem im Jahr 2004 vorübergehend zwei Meisterwerke – „Der Schrei“ und die „Madonna“ – abhandenkamen, machte das abgelaufene Haltbarkeitsdatum des Hauses überdeutlich. Nun hat sich Oslo mit Unterstützung des norwegischen Staates für knapp 300 Millionen Euro ein Museum nach neuesten technischen Standards geleistet.

Edvard Munch Museum Oslo
Der Maler im Wohnzimmer seiner Villa Ekely, fotografiert 1943. © Ragnvald Væring/Munchmuseet

Dem Hochhaus des spanischen Büros Estudio Herreros fliegen die Herzen nicht automatisch zu. Von der Front aus betrachtet neigt der mit einer grauen Aluminiumfassade verkleidete 57-Meter-Turm seine Spitze der Stadt entgegen. Leicht schlumpfig, so wirkt es. Auch keimt die Vermutung auf, die kühle Kongresszentrumsästhetik könne nicht recht zu einem von hohen Gefühlstemperaturen durchströmten Maler wie Munch passen. Aber dann passt sie in den Details – siehe Rolltreppen-Offenbarung – eben doch.

Ohnehin wird es schnell klassisch, sobald man Foyer und Treppenhaus hinter sich lässt: In den Sälen der Dauerpräsentation regiert das fein abgestimmte Kunstlicht, die Bilder werden auf farbigen Wänden präsentiert. Da Munch häufig mehrere Varianten seiner Lieblingsmotive malte und einiges behielt, ist in dieser weltweit größten Sammlung seines Œuvres so gut wie jedes bekannte Werk vertreten. Die Bilder sind dabei nicht chronologisch, sondern nach Themen geordnet, und bereits im Anfangsraum zum Sujet „Liebe“ löst man das Ticket zu Munchs großer Gefühlsachterbahn. Im allerersten Rahmen ist ein Doppelporträt des Künstlers mit seiner Partnerin Tulla Larsen zu sehen. Drei Jahre waren die beiden in einer turbulenten Beziehung verfangen, die 1902 mit einem mysteriösen Pistolenschuss und einer verletzten Malerhand abrupt endete. Bezeichnenderweise sind in dem Gemälde von 1905 die beiden Hälften durch einen Schnitt in der Leinwand getrennt und individuell betitelt.

Edvard Munch Museum Oslo
Harmonische Farben, ernster Blick: Edvard Munchs Gemälde „Der Künstler und sein Modell“ aus den Jahren 1919–1921. Die Beziehungen des Malers zu Frauen waren oft kompliziert. © Ove Kvavik/Munchmuseet

Das Verhältnis des Künstlers zu Frauen war allgemein kompliziert – dem Motiv „Eifersucht“ (1907) folgen wenige Wandmeter weiter zwei nicht minder schwermütige Bilder mit dem Titel „Trennung“ (von 1894 und 1896). Hintergrund dieser beiden Werke war eine unglückliche Liebesaffäre mit Milly Thaulow, der Frau seines Vetters, die er später auch in sein Gemälde „Der Tanz des Lebens“ (zu sehen in der Version von 1925) einfließen ließ: Aussagen des Künstlers deuten an, dass es sich bei der zentralen tanzenden Frau im roten Kleid um Milly Thaulow handelt. Im fröhlichen Mädchen im weißen Kleid am linken Rand, das ein Übernahmeangebot zu machen scheint, und der traurig blickenden Frau in Schwarz ganz rechts vermuten die Interpreten Porträts von Tulla Larsen. Erwartung, Euphorie und Enttäuschung wären somit in einem Bild kompakt vereint. Wen wundert es bei einem Maler, der seinem berühmten Bild „Vampir“ ursprünglich den Titel „Liebe und Schmerz“ gegeben hatte.

Edvard Munch Museum Oslo
„Das kranke Kind“ (1896) erinnert an Munchs tote Schwester. © Halvor Bjørngård/Munchmuseet

Mag man das gebündelte Herzeleid an dieser Stelle noch anekdotenhaft-unterhaltsam finden und insgeheim den Rausch der Farben in Munchs Bilder genießen, lässt das nächste Kabinett zum Thema „Tod“ keine emotionale Distanz mehr zu. Die Tuberkulose nahm dem Maler früh seine Mutter, fast zehn Jahre später auch seine Schwester. An Letztere erinnert die Lithografie „Das kranke Kind“ von 1896, ein Werk, das trotz seiner energischen Strichführung unfassbar zart wirkt. Das daneben platzierte gleichnamige Ölgemälde von 1927 zeigt mit seinem nervösen Duktus und dem unregelmäßigen Farbauftrag dieselbe Situation, nur gruseliger: Das rote Haar des Mädchens fieberfeucht am Schädel klebend, die bleiche Nase verschwindet im Weiß des Kissens, sodass das Gesicht wie ein Totenkopf aussieht. Es ist kaum zu ertragen. Weitere Bilder in diesem engen Raum heißen „Der Tod im Krankenzimmer“, „Todeskampf“ oder „Der Tod und das Kind“. Das letztgenannte zeigt im Hintergrund die verstorbene Mutter im Bett. Bei „Erbe“, entstanden in den Jahren 1897 bis 1899, weint eine sitzende Frau in ein Taschentuch, auf ihren Knien liegt ein leichenweißer Säugling. Wer malt so etwas?

Als junger Mann war Edvard Munch Teil der sogenannten Kristiania-Boheme, ein Kreis um den Schriftsteller Hans Jæger, der sich der Wahrhaftigkeit und Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen verschrieben hatte. Der Maler, das ist in der Ausstellung leicht zu erkennen, hat diese Haltung in Bilder verwandelt. In der Gesamtschau seines Œuvres offenbart sich, dass Munch nicht dem Symbolismus anhing, obwohl er zweifellos von ihm inspiriert wurde. Doch anders als die meisten seiner symbolistischen Vorgänger illustriert er nicht. Er drückt aus. Seine Bilder – nicht nur die Landschaften – sind wahrhaftige Seelenlandschaften. Mit ihnen öffnet sich das Fenster zum Expressionismus.

Edvard Munch Museum Oslo
„Die Sonne" (1910-1911) ist eines von Munchs Werken im Riesenformat, welches er im Freien auf einer Leiter stehend malte. © Munchmuseet

Die anregende Sammlungspräsentation hinterlässt solch erhellende Momente, aber auch die eine oder andere offene Frage: Warum bewahrte Munch, wie im Kapitel „Variationen“ zu sehen, mehrere Fassungen seines Akts „Weinende Frau“ von 1907 in absurden Formaten? Werke, die bestenfalls als Studien durchgehen dürften und kaum für den Verkauf gedacht waren. Wie kam es 1918 zum Bildnis eines nackten schwarzen Mannes im Atelier? Und wie gelang es ihm, jene Riesenformate wie „Die Sonne“ (1910–1911) zu beherrschen, die im Kapitel „Monumental“ gezeigt werden? Hier bietet immerhin das umfangreiche Material auf der Museumswebseite eine Antwort: Munch, damals Anhänger einer vitalistischen Naturphilosophie, malte die Sonne im Freien auf einer Leiter. Bei dieser Studie für ein Gemälde, das heute in der Aula der Osloer Universität hängt, floss die Farbe übrigens besonders spontan und klecksig. In der Nahsicht glaubt man schon fast, den abstrakten Expressionismus aus der Zukunft grüßen zu sehen.

Und wo hängt nun „Der Schrei“? Für dieses fragile Jahrhundertwerk haben sich die Kuratoren einen besonderen Kniff ausgedacht: In einem schwarzen Kabinett öffnet sich immer zur vollen Stunde lautlos eines von drei Türchen in der Wand und gibt für 60 Minuten den Blick auf eine der Varianten frei – die Lithografie in Schwarz-Weiß von 1895, die zartfarbige Wachsmalstiftzeichnung von 1893 oder das glühende Gemälde, wohl von 1910. Fällt der Spot dann auf Letzteres, ist das Publikumsentzücken deutlich zu hören. Das Ganze ist natürlich Inszenierungskitsch. Aber zu diesem Zeitpunkt hat man in der Ausstellung schon so viel über die Kunst und das Leben erfahren, dass man ein bisschen theatralisches Brimborium gern verzeiht.

Edvard Munch Museum Oslo
Im Jahr 1925 malte Edvard Munch den „Tanz des Lebens“. © Ove Kvavik/Munchmuseet

Der Weg zum Schrei

Vier farbige Varianten sind vom berühmtesten Werk des Malers bekannt – drei davon bewahren Museen in Oslo. Neben den zwei Versionen im Munch-Museum besitzt das Nasjonalmuseet eine von 1893. Im Juni 2022 eröffnet ein gigantischer Neubau des Nationalmuseums, dann sind wieder drei „Schrei“-Bilder in Oslo zu sehen.

Service

MUSEEN

Munchmuseet

Oslo, Norwegen

munchmuseet.no

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Nasjonalmuseet

Oslo, Norwegen

Neueröffnung: 11. Juni 2022

nasjonalmuseet.no

 

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