Venedig in der Pinakothek der Moderne

Zauberhafte Blätter

Eine Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne vereint venezianische Druckgrafik und Zeichnungen aus vier Jahrhunderten – darunter Meisterblätter von Tintoretto, Tizian und El Greco

Von Gloria Ehret
11.03.2022

Die Schau entführt uns nach Venedig, in dieses Stadtwunder, das auf singuläre Weise mit dem Meer verbunden ist. Wir tauchen in die venezianische Grafik ein: in ihre Glanzzeit von 1500 bis zum Ende der Republik. 85 druckgrafische Blätter und 45 Handzeichnungen aus dem Bestand der Staatlichen Graphischen Sammlung München gewähren Einblicke in Alltagsleben und Feste, machen uns mit Leuten aller Stände vom Dogen bis zum Parrucchiere bekannt, zeigen, wie geläufige religiöse Motive und Themen sich in der Lagunenstadt in einer lichtdurchfluteten, flirrenden Atmosphäre abspielen. Es sind autonome kleine Schöpfungen auf Papier der bedeutendsten venezianischen oder in Venedig tätigen Künstler von Amigoni, Jacopo de Barbari, beider Bellini oder Brustolon über Giulio Campagnola, Canaletto, Agostino Carracci, Giovanni David, Fontebasso oder El Greco bis Palma il Giovane, Tintoretto, Tizian und Veronese.

Die Ausstellung ist dreigeteilt. Panorama-Ansichten des Canal Grande, Kirchen wie San Giorgio Maggiore oder San Giminiano, Paläste wie die Ca’Pesaro oder der Dogenpalast und weniger spektakuläre, malerische Schauplätze wie die Schleuse von Dolo oder der Turm von Marghera stimmen im langen Zugang auf die Lagunenstadt ein.

Der große Saal vereint Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen, die das vielfältige technische Können sowie den künstlerischen Einfallsreichtum, gängige oder neue Motive mit den Augen des Venezianers sehen. Die Nähe zur weltberühmten venezianischen Malerei spornte die Grafiker zu weichen geschwungenen Linien, zarten Grauwertabstufungen oder – wie Giulio Campagnola, zu aufwendiger Punktiermanier, für Sfumato-Effekte an. Jacopo de’ Barbari, in Venedig geboren, an den Höfen Europas gefragt und wiederholt in der Ausstellung vertreten, hat in seinem Kupferstich „Madonna mit Kind, gegen einen Baum gelehnt“ Profanes und Sakrales, Natürlichkeit und Intimität sowie Dürer’sche Motive auf das Glücklichste verschmolzen. Ganz anders die Wirkung seines, zur gleichen Zeit um 1503 entstandenen kleinen Kupferstichs „Weiblicher Akt mit Konvexspiegel“. Das erotisch angehauchte Kniestück der versonnen in den Spiegel Blickenden befand sich bereits 1504 im Besitz des Nürnberger Humanisten Hartmann Schedel. Er ist ein Beleg für die schnelle Verbreitung der Grafiken in Europa, die alsbald in berühmte Sammlungen integriert wurden. Wie eng der künstlerische Austausch war, zeigt de’ Barbaris „Pegasus“-Kupferstich um 1515, dessen Flügelschwingen an jene von Dürers „Nemesis“ erinnern. Auch Giulio Campagnolas Kupferstich mit der „Entführung des Ganymed“ lehnt sich mit den Flügeln und der Übernahme der altdeutschen Landschaftskulisse eng an Dürer an.

Ugo da Carpis Clairobscur-Holzschnitt „Saturn“ wiederum steht im Zusammenhang mit einer ehemals berühmten Fassadendekoration von Giovanni Antonio da Pordenone. Der Bologneser Agostino Carracci besuchte in den 1580er Jahren zweimal Venedig, und fertigte Stiche nach berühmten venezianischen Werken der Malerei an. 1589 entstand der Kupferstich „Minerva hält Mars von Pax und Abundantia fern“ nach einem Tintoretto-Gemälde im Dogenpalast.

Die venezianische Druckgrafik des 18. Jahrhunderts brilliert in den Radierungen Tiepolos. Seine Blätter aus den „Capricci“ und „Scherzi di fantasia“ mit flirrenden Schraffuren vor lichtem Hintergrund entführen in dicht bewegte Szenen einer irrealen Traumwelt mit Magiern, Nymphen, Philosophen, Soldaten und Epheben. Auch die „Anbetung der Könige“ eins der wohl gängigsten Motive der abendländischen Kunst überhaupt, verwandelt er in eine singuläre Tiepolo-Darstellung mit unvergleichlicher Aura. Im Gegensatz dazu stellt Canaletto in seinem Radierwerk „Vedute“ Fantasieansichten mit römischen Ruinen und hügeligen Landschaften dar, denen er durch seine stringente, das Blatt samt Hintergrund füllende Strichführung einen arkadischen Zauber verleiht. Auch der Mensch kommt in Venedig nicht zu kurz: Um 1767 hat Teodoro Viero Köpfe von jungen Mädchen und Männern in natürlicher Größe und Grazie nach Giovanni Battista Piazzetta in Kupfer gestochen, die als zeichnerisches Lehrstück und kompositorische Muster physiognomischer Studien gelten. Der Genueser Giovanni David lässt in seinen hochformatigen Radierungen charakteristische weibliche und männliche Vertreter der städtischen Gesellschaft samt Dienstleistern in ihren typischen Kostümen um 1775 Revue passieren. Der müde auf einem Stuhl hingesunkene Perückenmacher bildet den Schlusspunkt. Kein Wunder, denn er galt im venezianischen 18. Jahrhundert als eine der wichtigsten Persönlichkeiten im täglichen Leben, den nicht nur Damen von Stand, häufig mehrmals am Tag zu sich riefen.

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Tizians „Heransprengender Reiter über gefallenem Gegner“ (1513/37) entstand auf dem für Venedig typischem blauen Papier. © Staatliche Graphische Sammlung

Der dritte Teil der Ausstellung ist den Handzeichnungen gewidmet. Als Überleitung von der Miniaturmalerei ist die über 50 Zentimeter hohe illuminierte Pergamentseite aus einem Psalter des Paduaner Bildschnitzers und Verlegers Benedetto Bordon um 1490 mit der Initiale B in satten Farben und feinen Linien in Pinselgold zu betrachten. Gentile Bellini ist mit sechs einfachen Architekturskizzen in brauner Feder um 1500 vertreten. Dass der größte venezianische Maler Tizian auch mit Stift und Kreide umgehen konnte, zeigt sein „Heransprengender Reiter über gefallenem Gegner“ auf dem für Venedig typischem blauen Papier. Nach der ausführlich kommentierten Katalogisierung handelt es sich wohl um eine Studie zur Schlacht von Spoleto, die jedoch frei in ein Gemälde umgesetzt wurde. Lorenzo Lotto schildert in brauner Feder mit Weißhöhung über schwarzer Kreide um 1533 bildwürdig den Moment „Ein Fischer überbringt dem Dogen den Ring des hl. Markus“ als Präsentationszeichnung für das Gemälde in der Scuola Grande di San Marco. Er hat sich am 15. Februar 1341 zugetragen und wird im Katalog ausführlich erläutert.

Zu den Highlights der Schau gehören Tintorettos Studien nach dem Porträtkopf des sogenannten „Vitellius“ mit schwarzem Stift, weißer Kreide und grünlich aquarelliertem Hintergrund auf blauem Papier. Die antike Büste aus der hadrianischen Kaiserzeit gelangte 1523 nach Venedig, wo sie im Dogenpalast ausgestellt war und von vielen namhaften Künstlern gezeichnet wurde. Allein von Tintoretto oder einem seiner Schüler haben sich an die 30 erhalten. Kaum glaublich, wie er dem Marmorbildnis Leben eingehaucht hat; wie es ihm gelungen ist, die leeren Augen zum Sprechen zu bringen.

Ebenso großartig ist El Grecos um 1570 gezeichnete Variation zu Michelangelos Skulptur des „Giorno“ am Medici-Grabmal in Florenz. Auch der Kreter zeichnete mit schwarzem Stift und weißer Höhung auf blaues Papier und sprengt mit der vitalen Kraft der Figur im lichthaltigen Sfumato gleichsam den Bildrahmen, der allerdings von Giorgio Vasari, damals Besitzer des Blattes, angestückt und für dessen „Libro dei Disegni“ aufbereitet worden ist. Es befand sich, wie viele derzeit zu bestaunende Graphiken, in der Mannheimer Sammlung von Kurfürst Carl Theodor, bevor diese nach München in die Staatliche Graphische Sammlung kam. Zwei recht unterschiedliche Zeichnungen stammen von Paolo Veronese. Sein Männerporträt mit warmem, offenem Blick um 1500 könnte ein „Bildnis des Daniele Barbaro“ sein, des Patriarchen von Aquileia, der mit dem Künstler befreundet war. Die autonome Zeichnung in schwarzer Kreide, weiß gehöht auf getöntem Papier berührt durch ihre menschliche Wärme. Skizzenhafte Entwürfe zu zwei Kompositionen aus der Geschichte Venedigs zeigen hingegen lebhaft agierende Figurengruppen nebst angedeuteten Architekturdetails in brauner Feder.

Von Jacopo Amigoni, der 1682 in Neapel geboren wurde, 1752 in Madrid starb, als Freskant in Nymphenburg, Schleißheim und Kloster Ottobeuren tätig war und als ein Hauptvertreter des venezianischen Rokoko gilt, ist eine Ölfarbenskizze mit „Abigail vor David“ um 1725 zusehen, die durch ihre quicklebendige, bildhaft durchgeführte Figur bezaubert. Wie menschlich tief Giovanni Battista Piazzetta Bildnisse erfasste, veranschaulichen zwei Porträtstudie in Kreide zu einem Kleriker und dem Brustbild eines älteren Mannes mit Oberlippenbart und Kappe im Profil. Solche Blätter mit Gesichtern als Ausdrucksträger waren bei Sammlern sehr beliebt. Giovanni Battista Tiepolo bezaubert mit einer Anzahl Blätter, bei denen er alle künstlerischen Register zieht. Hingehauchte lichtdurchflutete Federzeichnungen in Braun verwandeln die tödliche „Kreuzigung des hl. Petrus“ in ein wunderbares Licht-Schatten-Spiel, auch „Der junge Tobias mit dem Erzengel Raphael“ wird zu einer bewegten Lichtkomposition. Auf dem in Venedig so beliebten blauen Papier hat Tiepolo den „Profilkopf eines Mannes mit alpenländischer Kappe“ mit Rötel und weißer Kreide wie eine zeitlose Momentaufnahme eingefangen. Lichtdurchflutet und luftig, und doch szenisch detailliert, hat er die vielfigurige Komposition mit dem „Hl. Augustin und dem Hl. Ludwig von Frankreich, Johannes Evangelist und anderen wohl als Zwischenschritt der Werkgenese für ein 1738 fertiggestelltes Altarbild ausgeführt, das sich heute in London befindet. Giovanni Antonio Guardi wiederum hat das vielfigurige szenenreiche Blatt „Die unterworfenen Provinzen huldigen Venedig“ nach Tintoretto in Feder und Pinsel laviert über schwarzer Kreide als eigenständige Komposition wiedergegeben. Auch seine dramatische Kampfesszene der „Verteidigung von Brescia“ geht auf ein Deckenfresko von Tintoretto zurück. Guardis ebenfalls brauntonige Pinselzeichnung „Verkündigung an Maria“ zählt in ihrem gleichsam entstofflichten Bewegungsstrom in virtuosen lichten Lavierungen zu den Meisterleistungen venezianischer Zeichenkunst, die zu Recht schon von Kurfürst Carl Theodor gesammelt worden ist.

Als autonomes Bravourstück zwischen Zeichnung und Malerei verortet der Kurator und Ausstellungsmacher Kurt Zeitler die bildwürdig ausgeführte Darstellung „Maria salbt Christus die Füße im Hause des Lazarus“ um 1750 von Francesco Fontebasso. Diese „Venezianità“ begeisterte damalige Sammler und betört bis heute. Giovanni Domenico Tiepolo steuert eine voll ausgearbeitete, zutiefst menschlich erfasste „Ruhe auf der Flucht“ um 1750 bei, wieder in milden durchlichteten braunen Tönen mit kräftigen Tuscheschichten und Chiaroscuro-Effekten.

Eine „Gondel mit Liebespaar, einem Musiker und zwei Gondolieri“ in kräftigen bunten Farben um 1600 wird dem Umkreis des Lodewijk Toeput aus Antwerpen zugeschrieben, der in Italien „Il Pozzoserrato“ genannt wurde. Die heiter-amouröse Szene ziert die Einladungskarte zum Besuch der hinreißenden Ausstellung. Man sollte sie nicht versäumen!

Service

Ausstellung

„Venedig. La Serenissima. Zeichnungen und Druckgraphik aus vier Jahrhunderten“,

bis 8. Mai,

Pinakothek der Moderne, München,

pinakothek-der-moderne.de

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