Street Photography

Auf der Straße wartet das Leben

Zuvor völlig unbekannt, elektrisiert die amerikanische Fotografin Vivian Maier die Kunstwelt und die Besucher vieler Ausstellungen, seit ihr Werk 2007 in Chicago auftauchte. Die Werkstattgalerie Noack in Berlin zeigt jetzt ihre Bildwelt in allen Facetten. Auch seltene Vintage-Abzüge sind zu sehen – und zu erwerben

Von Sebastian Preuss
30.12.2021

Es ist der Stoff, aus dem die kunsthistorischen Mythen entstehen. Eine Frau, die in desolaten Familienverhältnissen aufwuchs, ihr Leben lang als Kindermädchen arbeitete und in mehr als fünfzig Jahren ein gewaltiges fotografisches Werk schuf, das niemand je sah und erst nach ihrem Tod öffentlich wurde. Vivian Maier, die nach ersten Ausstellungen 2010/11 in Århus, Oslo und Chicago praktisch über Nacht weltbekannt wurde und seither Menschen in aller Welt begeisterte, erreichte postum das, wonach sie zeitlebens offenbar nie gestrebt hatte: die Anerkennung als Künstlerin und, mehr noch, die feste Verankerung im Kanon der Fotogeschichte. Dass die Menschen von ihr so in Bann geschlagen werden, hat mit der romanhaften Geschichte ihres Lebens und ihrer Entdeckung zu tun, mit der unglaublichen Zahl von 150.000 völlig unbekannten Bildern, die 2007 bei einer Auktion in Chicago auftauchten – die meisten als Negative, von denen Maier nie Abzüge gemacht hatte, rund 40.000 als Farbdias, zahllose noch verborgen in Hunderten von unentwickelten Rollfilmen.

Die drei Käufer der Konvolute erkannten erst nach und nach die überragende Qualität dieses Werks. Denn das ist der andere, der entscheidende Aspekt für Maiers Ausstrahlung und für den sensationellen Aufstieg, den sie nicht mehr erlebte: die Fotografie selbst, der untrügliche Blick für besondere Details, an denen andere achtlos vorbei gehen, die aber in höchst suggestiver Weise für das Ganze stehen; die Kompositionen, die ästhetisch höchst ausgeklügelt sind, obwohl sie meist als sekundenschnelle Schnappschüsse entstanden; die oft schrägen oder skurrilen Zufallseindrücke, die ganze Geschichten zu erzählen scheinen; dieser irgendwie lässige, sehr humane Vivian-Maier-Sound, der ihren Bildern eine ganz spezielle Aura verleiht.

Vivian Maier Werkstattgalerie Noack Howard Greenberg Gallery
Vivian Maier, Straßenszene in Chicago, 1961. © The Estate of Vivian Maier, Courtesy of Maloof Collection and Howard Greenberg Gallery

Zum dritten Mal, nach 2015 und 2018 im Willy-Brandt-Haus, ist Maiers Werk in Berlin zu erleben. In Zusammenarbeit mit der Howard Greenberg Gallery in New York zeigt die Werkstattgalerie Hermann Noack rund 120 Abzüge, darunter 22 der seltenen Vintage Prints und einige kürzlich zum ersten Mal abgezogenen Bilder. Zu sehen sind alle Phasen von den Fünfziger- bis in die Achtzigerjahre. Auch die Farbfotografie, die Maier seit den späten Sechzigern hauptsächlich nutzte, aber bei der Rezeption zuweilen in den Hintergrund geriet, ist ausführlich präsent. So lässt sich an einer Parade von Meisterwerken nachvollziehen, warum Maier in der amerikanischen Street Photography mittlerweile eine so große Bedeutung zukommt. Alle Bilder sind verkäuflich, was für Sammler wirklich eine kleine Sensation ist, denn die meisten der postumen Editionen sind seit Jahren ausverkauft. Die Preise für die späteren Prints liegen (je nach Auflagenhöhe) zwischen 3500 und 7000 Dollar, einzelne Meisterwerke mit berühmten Motiven auch deutlich darüber. Die Vintages rangieren  zwischen 8000 und 12.000 Dollar, aber auch hier gibt es einige Ausnahmen im höheren Bereich.

Vivian Maier wurde  1926 in New York als Tochter einer Französin und eines Österreichers geboren. Die Familie hatte ständig Geldprobleme. Den größten Teil ihres Lebens arbeitete Maier als Kindermädchen in Manhattan, seit 1956 in den bürgerlichen Vororten von Chicago. Nachdem sie 1949 während eines Frankreich-Aufenthaltes erstmals eine Kamera gekauft hatte, fotografierte sie, wann immer sie Zeit dafür fand. Eine professionelle Ausbildung erhielt sie nie. Umso erstaunlicher sind die Virtuosität ihres Bildaufbaus und der untrügliche Blick für besondere Situationen, die sie auf der Straße, aber auch in ihrem persönlichen Umfeld wahrnahm.

Ihr Badezimmer funktionierte sie zur Dunkelkammer um, aber die allermeisten ihrer Bilder sah sie allenfalls als Negative; sehr viele gar nicht, weil sie kein Geld für die Entwicklung hatte. Es stellt sich die Frage, ob der Akt des Fotografierens –ihre größte und womöglich einzige Passion und zugleich eine Form, aus ihrer verschlossenen Existenz heraus am Leben anderer teilzuhaben – vielleicht wichtiger war als das Editieren von Prints. Dafür spräche auch, dass sie meist nur einen Schuss von einer Situation gemacht hat.

Vivian Maier Werkstattgalerie Noack Howard Greenberg Gallery
Der Ort dieser Aufnahme von Vivian Maier ist unbekannt, 1977/78. © The Estate of Vivian Maier, Courtesy of Maloof Collection and Howard Greenberg Gallery

In den Jahren vor ihrem Tod 2009 war sie völlig verarmt und von Obdachlosigkeit bedroht, erhielt aber Unterstützung von einigen ihrer ehemaligen Arbeitgeber. Zu der Auktion ihres gesamten Besitzes 2007 kam es, weil sie die Gebühr für die Einlagerung nicht mehr aufbringen konnte. John Maloof, der Hauptkäufer des Nachlasses, wichtigster Entdecker und Förderer ihres Werks, fand zwischen den Negativen den Aufkleber eines Fotolabors mit ihrem Namen, konnte sie aber nicht ausfindig machen. Erst als er 2009 im Internet auf ihre Todesanzeige stieß, kam er in Kontakt zu Menschen, die sie gekannt hatten. Maier, die sehr verschlossen war, wenn es um ihre privaten Angelegenheiten ging, hat fast nie jemandem ihre Fotos gezeigt. Bis heute ist ein Großteil des Riesenwerks noch unerschlossen – auch wenn die Eigentümer der Negative (vor allem Maloof, der mit der Howard Greenberg Gallery zusammenarbeitet) mittleweile aus dem Nachlass rund 400 Prints in limitierten Auflagen herausgegeben haben.

Die Bilder, die zum größten Teil in den Straßen von New York und Chicago entstanden, umkreisen den Alltag einer prosperierenden Nation, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Weltmacht aufgestiegen war. Maier zeigt nicht den amerikanischen Traum, sondern das wahre Leben in einem Alltag, in dem Erfolg und Wohlstand für viele unerreichbar bleibt. Die Fotografin ist keine soziale Anklägerin, aber eine höchst aufmerksame Beobachterin mit einem sensiblen Nerv für besondere, oft schräge oder auch skurrile Situationen in der Normalität der Großstadt.

Ob reich oder arm, am liebsten nimmt sie Menschen auf, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Ein Polizist, der sich vor einem Mode-Schaufenster eine Zigarette anzündet; eine Frau, die auf dem Bürgersteig ihre Töchter fotografiert; zwei Passantinnen, die gerade nicht guter Laune sind, das Unwohlsein ist ihnen ins Gesicht geschrieben; Männer, die auf einer Türschwelle oder im Auto schlafen; ein Mann im Western-Outfit mitten in Manhattan: Das alles hält sie fest, wenn sich daraus eine besondere Komposition ergibt. Die Reichen kommen ebenso vor wie die Mittelschicht, die sich durchs Leben kämpft, und sehr häufig auch die Menschen am Rand der Gesellschaft. Oft stellt sie sich mit strengem, verschlossenen Gesicht selbst dar, in Spiegeln, Schaufenstern oder als Schatten.

Vivian Maier Werkstattgalerie Noack Howard Greenberg Gallery
Eine New Yorker Impression, aufgenommen 1953. © The Estate of Vivian Maier, Courtesy of Maloof Collection and Howard Greenberg Gallery

Die ehemaligen Bekannten, Arbeitgeber und von ihr großgezogenen Kinder, die nach ihrer Entdeckung noch befragt werden konnten, berichteten, dass sie fast immer die Kamera um den Hals trug, wenn sie außer Haus war. Das Beobachten der Welt und der Menschen durch den Sucher der Kamera war ihr zur zweiten Natur geworden. Sie fotografierte offenbar sehr diskret, meist ohne bemerkt zu werden, aber nicht wenige ihrer Sekundenschüsse zeugen auch von einer gewissen Unverfrorenheit, Menschen aus der Nähe in privaten oder nicht sehr schmeichelhaften Situationen aufzunehmen. Immer wieder offenbart sich ihr Sensorium für vermeintliche Nebensächlichkeiten, für Details, die mehr aussagen, als man zunächst denkt: die aufwenige Frisur einer offenbar wohlhabenden Lady von hinten, ein verlorener Schuh, ein eingegipstes Bein, Schaufenster und Leuchtreklamen, die Hände eines Liebespaars oder das Gesäß einer Frau, das zwischen einer Parkbank hervorquillt.

Was Maiers Fotografie neben ihrem menschlichen und sozialen Gehalt so aufregend macht, ist ihre Bildsprache. Sei es im Quadratformat der Rolleiflex, die sie für die Schwarz-Weiß-Bilder nutzte oder in den rechteckigen Farbaufnahmen mit der Kleinbildkamera: Es ist alles genau komponiert, ohne je zu perfekt zu wirken. Immer entsteht im Wechselspiel von Mensch und Stadt irgendein besonderer Effekt; nur dann drückte sie ab. Gefunden in Sekunden, sind es Bilder für die Ewigkeit.

Vivian Maier Werkstattgalerie Noack Howard Greenberg Gallery
Spiegelungen und Fenster spielen bei Vivian Maier immer wieder eine wichtige Rolle, eine New Yorker Aufnahme von 1953. © The Estate of Vivian Maier, Courtesy of Maloof Collection and Howard Greenberg Gallery

Service

AUSSTELLUNG

„Vivian Maier. Streetqueen“,
Werkstattgalerie Hermann Noack, Berlin,
verlängert bis 27. Februar

noack.berlin

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